theorie


 
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Lars Jeager ist der Ansicht, die Unsicherheit in den politischen Diskursen liege daran, dass selbst Wissenschaft zunehmend Unsicherheiten produziert und Letztbegründungen unmöglich geworden sind. Auch wenn das die Lage noch schlimmer macht, halte ich die Hauptursache für eine andere. Sie ist jene Getriebenheit von Wünschen, die schon immer Mythologie hervorgebracht hat. Ihr ist es ganz gleich, welche Wissenschaft sie dafür ignorieren oder missbrauchen muss.

Der Wunsch ist der Vater der Gedanken. Für Freud entsteht Realität erst aus der Abwehr des Wunsches. Statt sich der Halluzination, dem Traum hinzugeben, wie man satt wäre, macht der Mensch einen Plan, wie er ans Futter kommt. Er kann sogar auf die einfache direkte Befriedigung verzichten, wenn es einen Plan gibt, in dem das ein Vorteil ist. Alle Rationalität aber beginnt mit dem Wunsch - womit im Übrigen auch 'Antiwünsche' gemeint sind: Angst und Schmerz.

Wünschdirwas

Erst die moderne Wissenschaft hat ein Konzept von Rationalität hervorgebracht, in dem der Wunsch, das Triebziel keine Rolle mehr spielen darf. Dass das regelmäßig korrumpiert wird, weil sich 'Wissenschaft' in den Dienst von Interessen stellt, ist nicht dem Konzept geschuldet. Phantasie hat in wissenschaftlichem Denken nur so weit eine Berechtigung, wie sie neues überprüfbares Wissen schafft, etwa durch neue Modelle, die die Welt besser bzw. anders beschreiben als die alten. Wissenschaft ist eine ewige Korrektur.

In Bezug auf Politik ist Denken - sowohl solches, das vom Willen geprägt ist, als auch wissenschaftliches, in einer schwierigen Situation. Ausgerechnet in modernen 'Demokratien' ist wissenschaftliches Denken in der Politik beinahe ausgeschlossen. Im deutschen Parlamentarismus etwas ist ausdrücklich die "Willensbildung" das Zentrum der Betrachtung. "Was wollen die Menschen?" ist vordergründig die Frage, und diese Frage ist tödlich für einen geordneten Diskurs unter heutigen Bedingungen.

Jeder darf hier nämlich seinen Wünschen, seinen Phantasien und Illusionen freien Lauf lassen und sie fröhlich mit allem mixen, das den Anschein macht 'Wissen' zu sein. Diskussionen, Argumente, selbst Fakten dienen nicht der Erkenntnis, sondern der Bestätigung des eigenen Weltbilds. Was es nicht bestätigt, fliegt raus, weil es unerwünschte Emotionen auslöst. Die Diskutanten schotten sich in aller Regel systematisch von Erkenntnis ab und schaffen sich Rituale der Selbstbestätigung. Der Prozess ist völlig ungeeignet, Wirklichkeit zu organisieren, weil diese nicht einmal erkannt wird.

Im Folgeartikel wird es darum gehen, welche Konsequenzen das für Gesellschaftsentwürfe und politische Konzepte hat.

 
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Die bürgerliche Gesellschaft weist in ihrem Fundament drei Risse auf, die kaum mehr zu kitten sind: Erstens ist sie nur noch reaktionär, das heißt, ihre politischen Entscheider versuchen mit allen Mitteln, die herrschenden Verhältnisse beizubehalten. Zweitens zersetzt sie mit den Regeln, auf denen sie beruht, ihr eigenes ideologisches Fundament. Da sie aber die Herrschaft verteidigt, die sich an keine Regeln mehr hält, kann sie das nicht einmal wahrnehmen. Drittens hat sie mit der Renaissance des Feindrechts zur eigenen Vernichtung angesetzt, weil sie sich selbst zum Feind wird.

Die bürgerliche Revolution, ich wiederhole das hier oft, hatte ein gewisses Regelwerk geschaffen, das sie benötigt um Verträge schließen zu können und die nötige Stabilität für kapitalistisches Wirtschaften zu ermöglichen. Spätestens mit dem Nationalsozialismus wurde diese Form der Zivilisation völlig zerstört. Die Aufgabe der Nachkriegsdemokratien bestand darin, diese wieder einzusetzen. Das ist nicht gelungen. Das erste Versagen besteht in der entschiedenen Rückkehr zum Kapitalismus, den beispielhaft die CDU in ihrem Ahlener Programm eigentlich abgelehnt hatte. Das nächste besteht in der Rückkehr zum totalen Primat des Profits durch den Neoliberalismus.

Deutsch-revolutionär

Zwischenblende: Jan Carl Raspe hat in einer Erklärung formuliert, dass "Freiheit nur möglich ist im Kampf um Befreiung". Diese Formel bringt den Bruch des Nachkriegssystems mit seinen bürgerlichen(!) Kindern auf den Punkt. Im Faschismus schneidet das Bürgertum seine Wurzeln ab gibt jeden kritischen Selbstbezug auf. Was als Revolution gegen Herrschaft begann, endet in der totalen Herrschaft. Das Ende des Nationalsozialismus hätte daher selbst einer revolutionären Bewegung bedurft. Stattdessen wurde der NS offiziell für beendet erklärt, ohne dass man sich auch nur damit beschäftigt hätte, was da war.

Die RAF hat daran erinnert. Nur permanente Erneuerung könnte das Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft auf "Demokratie" einlösen. Je starrer sie wird, desto weniger demokratisch kann sie sein. Die Verwechslung der 'Stadtguerilla' lag freilich darin, dass sie das falsche Versprechen mit den falschen Mitteln in eine richtige Gesellschaft überführen wollte, die es gar nicht geben kann. Tragisch dumm und konsequent deutsch.

Wo der Feind droht

Damit wurde ein Konflikt vorweggenommen, der erst in neuen Jahrtausend richtig ausgebrochen ist. Das Feindrecht ist zurück, Rassismus ist wieder da, die Menschenrechte zerfallen, weil es keine Einigung mehr darüber gibt, wer ein Mensch ist und wer nicht. In den USA werden Kinder durch Deprivation gefoltert. In der EU wird die Regierungsbeteiligung von Faschisten zum Regelfall. In Deutschland zerfällt eine Regierung wegen der rassistischen Politik der CSU.

Feindrecht ist der Kern dieser Angelegenheit, weil dessen Basis totale Entrechtung ist. Es muss keinen Grund mehr geben, um Krieg zu führen, Menschen zu töten oder Kinder zu foltern. Es reicht, dass man sich bedroht fühlt. Dergleichen gab es schon in früheren Phasen, eines hat sich aber geändert: Kann man solches Feindrecht gegen ein 'Außen' gerade noch richten, weil es eben die innere Gesellschaft nicht zersetzt, funktioniert das in einer globalen Zivilisation nicht mehr. Es gibt kein Außen mehr, daher kann jeder jederzeit zum Feind werden. Das ist der neue Übergang vom bürgerlichen zum faschistischen Staat.

Der vorletzte Schritt

Die Geheimdienste und Polizeien leben das längst aus. Den vermeintlichen Feind zu vernichten ist wichtiger als solche Kleinigkeiten wie Grundgesetz, Legalität überhaupt oder politische Legitimation. Die Bürger zerfallen in zwei entscheidende Lager: Die Einen wenden sich ab, weil sie ihre Ohnmacht erkennen oder angewidert sind, die Anderen fühlen sich permanent bedroht und betrogen. Damit nicht noch mehr kommen und ihnen etwas wegnehmen, wendet sich ihre Raserei gegen Menschen allgemein. Sie fokussieren dabei zunächst auf die, die nicht hierher gehören.

Der Rest tut, was er schon immer tat: So als sei nichts gewesen und mitmachen. Krise? Welche Krise? Die Autoritäten machen das schon. Wenn nicht die, an der wir seit Jahrzehnten festhalten, dann halt die nächste. Oder die übernächste. Irgendwer wird schon kommen und für Ordnung sorgen. Ein Bewusstsein findet nicht statt. Es gibt keinen Diskurs, in dem der Zerfall dieser Form der Zivilisation auch nur thematisiert wird.

 
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Was wäre ich ohne mich? Vermutlich eine Ansammlung von Marotten, Eigenschaften und kultivierten Routinen, die ein sich als vermeintlicher Chef aufführendes sogenanntes "Ich" zusammen zu halten versucht. Also eigentlich würde sich nix ändern, bis auf den Glauben an eine 'Identität', aber das ist etwas für Philosophen, die falschen obendrein, also lassen wir das.

Als richtiger säge ich weiterhin fröhlich an dem Ast, auf dem mein innerer Möchtegern-Chef es sich gemütlich gemacht hat. Heute mithilfe des hassenswerten Machos, Antifeministen, selbstverliebten Journal-Befüller und im Nebenberuf Juristen Thomas Fischer. Der hat nämlich mal wieder Probleme, und ich kann ihm helfen.

Härtere Strafen®

Ich kann das nicht, weil ich "Boston Legal" in zwei Sprachen komplett absolviert habe oder erstaunliche Erfolge bei der angewandten Lektüre von Gesetzen und Urteilen habe, sondern weil ich gelernt habe, dass das Flugzeug "Mensch" durchaus besser dran ist ohne seinen gleichnamigen Piloten. Wie immer biete ich keine Komplettlösung an, sondern wieder nur Analyse – das Zeug, das einem so bitter schmerzlich jeden Spaß an Allmachtsphantasien nimmt.

Wenn Fischer sich also über den Mob echauffiert, der härtere Strafen fordert, indem er sich an dem diesem zuarbeitenden Personal abarbeitet, wird das Elend nur zu deutlich: Was interessieren den aufgeklärten Geist angebliche 'Motive' eines zu verurteilenden Täters? Wie kann ein sogenanntes "Strafmaß" sich danach bemessen, was jemand angeblich wollte?

Ach Göttchen

Nun, das Strafrecht, eine der Säulen der Vermenschlichung Gottes (oder andersherum: Apotheose), es will 'gerechte' 'Strafen' finden für "Täter" (früher "Sünder", so auch heute noch in öffentlichen Beschwichtigungsritualen sogenannten Journalismus'). Es will die 'Schwere' einer 'Schuld' feststellen, hat sich mithin ausgerechnet als Korinthen scheißende Instanz für Regeln voll und ganz der Mythologie verschrieben.

Wie schon bei anderen Gelegenheiten, empfehle ich auch hier wieder dringend, dieses depperte Menscheln einzustellen und entweder zur meinetwegen auch christlichen Scharia zurückzukehren oder sich endlich weltlich zu geben anstatt eine halbseidene Religiosität aufrecht zu erhalten. Will heißen: Was Täter und Opfer angeblich denken, fühlen und wollen, ist irrelevant. Die Tat ist zu beurteilen, nicht der Täter.

Das wusst' ich nicht ...

Liegt einer Tat etwa eine Gefahr inne, ist es egal, ob ich diese ignoriere, bagatellisiere oder mit voller Absicht herbeiführe (btw.: „heraufbeschwören“ ist auch so ein Omm-Omm; als gehe es da um Geister). Ich fahre gegen den Nachbarproll mit Zweihundert durch die Fußgängerzone, hoffend, dass er es nur auf Hundertneunundneuzig bringt? Wen interessiert es, ob ich dann damit rechne, dass ein Passant als Gulasch unter meinem Scheibenwischer landet? Ist es wirklich besser, wenn ich nachweisen kann, echt so dämlich zu sein, dass es mich überrascht?

Zum Thema "Vergewaltigung" werde ich mich in diesem Kontext nicht äußern, denn es ist kontraproduktiv, ein Problem wie das des Strafrechts ausgerechnet anhand von Tatbeständen zu erläutern, die als Ausnahme der Ausnahme dazu eben nicht taugen. Selbst wenn es gelänge, ließe es sich nicht auf andere Delikte übertragen. Daher will ich es bei der Frage belassen, was denn gewonnen ist, wenn man die Tat nicht wirklich objektiv, nämlich als Tat und nicht als Sünde eines Täters beurteilt?

 
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Quelle: Pixabay

In meinem seltsamen Gespräch mit den Herren DeLapuente und Wellbrock gab es einige Situationen, in denen ich hätte ein Fass aufmachen können; dazu gehören insbesondere die Bemerkungen, in denen eine geradezu aufreizende Geschichtsvergessenheit zutage kam. "Das war ja eine ganz andere Situation" ist so ein Spruch und am anderen Ende die Hohlphrase "Wir leben ja im digitalen Zeitalter". Genau - alles anders, der Goldfisch dreht wieder seine erste Runde und weiß nichts von der letzten. In den ersten 20 Minuten dieses Vortrags von Adorno gibt es hingegen bereits reichlich Stoff zum Staunen. Ich fasse das einmal zusammen:

"Aspekte des neuen Rechtsradikalismus" heißt der und ist von April 1967. Die NPD schickte sich damals an, sich im politischen Betrieb zu etablieren. Adorno stellt fest, dass Nationalismus in der politischen Landschaft im Grunde paradox sei, zwischen den Blöcken (NATO / Warschauer Vertrag) und in einem Europa, das sich gerade zur EWG (Vorläufer der EU) zusammenschloss. Er nannte die "Angst vor der EWG" als einen wichtigen Faktor der neuen Rechten. Warte: Nationalismus als Kraft gegen die EU? Eine militärische Großmacht als Feind im Osten? Das ist ja heute völlig anders.

Die Reaktion

Als anti-sozialistische Kraft, so Adorno, wendet sich die Rechte "statt gegen die Apparatur", die die Lage verursacht, gegen einen ideologischen Feind. Die SPD mit ihrem "Keynesianismus" beschreibt er als "Bedrohung", dass ihr "Expansionismus" die Mittelschicht durch Inflation bedroht. Heute besteht diese Bedrohung in dieser Form nicht, da ist der Sozialstaat, der den fleißigen Deutschen alles abnimmt, die Bedrohung. Den gab es damals noch nicht, weil er nicht gebraucht wurde.

1967 bestand vielmehr die Sorge, das "Ende der Vollbeschäftigung" stehe bevor, und "das Gespenst der der technologischen Arbeitslosigkeit" ging um, wodurch sich die Aufsteiger "potentiell überflüssig" fühlten. Adorno sah dies bereits kommen, bevor es überhaupt Arbeitslosigkeit gab. Seitdem gab es immer wieder Schübe, in denen sowohl die Arbeitslosigkeit sich verschärfte als auch fremdenfeindliche Tendenzen sich verstärkten. 1980 war es die erste Million Arbeitsloser, die die neoliberale Wende einleitete; vier Millionen Ausländer wurden zum Ventil in Form von Pogromen, die Zuwanderung sollte eingedämmt werden.

1990, als die DDR angeschlossen wurde, die nächste Welle. Morde und Pogrome gegen Asylbewerber und die Beschneidung des Rechts auf Asyl waren die Folge. Immer wieder wurden konkrete Probleme des Kapitalismus durch Ausländerfeindlichkeit 'gelöst'. Aktuell ist die Parallele zu den von Adorno analysierten Zuständen bemerkenswert: Sofern es das Kleinbürgertum betraf, stellt der fest, dass "kleine Einzelhändler" durch die "Konzentration in Warenhäusern" bedroht waren und daher politisch nach rechts tendierten. Konzentrationsprozesse und ihre Folgen. Kennt man heute gar nicht mehr. Ach, falsch, es sind ja die Warenhäuser, die verschwinden.

Die nächste Runde

Den ländlichen Faschismus betreffend, sei die "subventionistische Struktur" (der EWG) keine Lösung. Zur Rolle der EU siehe oben. Faschismus sei "die Narbe" einer formalen Demokratie, die "ihrem Anspruch nicht voll gerecht" werde. Ökonomisch sei das verbunden einerseits mit der "Konzentrationstendenz", andererseits mit der "Verelendungstendenz". Darauf reagiere die Rechte mit der "Antizipation des Schreckens", sie nähre sich "von Weltuntergangsphantasien" und schüre das "Gefühl der sozialen Katastrophe" - hier sei hinzugefügt, dass der Auslöser die Fremden sind, die das Land bedrohen.

Wenn man diese Zusammenhänge nicht sehen will, ist es halt "heute völlig anders". Die Entwertung der Arbeit, die Konzentrationsprozesse, Automatisierung ("Rationalisierung", "Digitalisierung") und ein fatales Verhältnis von Kapital zu Arbeit sind Faktoren, die in den Büchern aus dem 19. Jahrhundert bereits erkannt und genannt wurden. Dieses Spiel wiederholt sich ständig, aber Kapitalhörige von liberal bis 'sozialdemokratisch' wissen nichts davon. Einige verzichten gleich ganz auf die Analyse und ergehen sich lieber in Phantasien, was sie nicht alles täten, wenn nur alle das Gute wollten.

 
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Vielleicht bin ich ein Freak, ein Nerd, einer, der sich immer übersetzen muss, damit man ihn versteht. An diesem Ort sicher nicht der einzige, aber eben so weit anders, dass die eigene Sprache zur Fremdsprache wird. Ein Beispiel dafür, womöglich das wichtigste, ist mein Beharren auf die Wirkung des Systems, das Spiel der Kräfte, den Rahmen der Optionen, Möglichkeiten, Hindernisse, Illusionen. Dabei ist der Glaube, das sei anders - weil ja schließlich immer Menschen entscheiden - eher eine Modeerscheinung.

Als Foucault am Ende von "Die Ordnung der Dinge" schrieb, der Mensch sei wie ein Gesicht im Sand, das verschwinden werde, hatte er vermutlich Recht. Die Idee "Mensch", der moderne Glaube, Menschen träfen Entscheidungen, womöglich bewusste, und entschieden so über ihr Schicksal und das ihrer Nationen, ist jung und doch schon hinfällig. Noch vor zweihundert Jahren hätte man sich rechtfertigen müssen, wenn man dem Menschen solches Bewusstsein und solche Entscheidungsfähigkeit überhaupt nachgesagt hätte.

Gott lenkt

Es war Gott, der entschied. Was der Mensch tat oder nicht, war das Ergebnis der Wirkung höherer Mächte; Gottes selbstverständlich, aber auch des Teufels, der Dämonen, des Schicksals. Was heute noch in den Religionen - auch und gerade in den christlichen - an Irrationalem lauert und jedem Gedanken an Verstand und Vernunft Hohn spricht, ist ja noch immer nicht neutralisiert. Schaut man sich an, was die Menschen global bewegt, wie sie denken, entscheiden und wonach sie leben, spielen Bewusstsein und Rationalität überhaupt keine Rolle. Das gilt für alle Menschen, also auch für solche, die man "Entscheider" nennt.

Es ist also völlig normal, davon auszugehen, dass nicht die Einzelnen und ihr Wille, Ihr Verstand oder sonst etwas Menschliches darüber entscheidet, was sozial und politisch geschieht. Lediglich der fromme Wunsch der Intellektuellen des 18. Jahrhunderts und die damals als probat erkannte Basis von Verträgen haben dazu geführt, dass Willensbekundungen und Verhandlungen zu einer relevanten Größe wurden. Diese aber mit der Wirklichkeit zu verwechseln, ist allzu menschlich - und völlig widersinnig.

Gehen wir einmal mehr zurück zu Freund Luther und der Befreiung der Christen von der Jahrhunderte währenden Befehlsgewalt einer reaktionären Einrichtung, die jeden geistigen und technischen Fortschritt erfolgreich verhindert hatte. Mit der neuen 'Freiheit' kamen aber ebenso neue Ketten, Denkverbote und ein jetzt noch raffinierterer Psychoterror. Ja, der Mensch wurde befreit aus seiner Rolle als Sünder, der reuig zu seiner Kirche kriechen musste, um sich Gottes Gnade bescheinigen zu lassen. Er war jetzt frei davon.

Dein Wille geschehe

Künftig thronte ein zorniger Gott über ihm, dessen Gnade bis in alle Ewigkeit ungewiss ist. Man kann sich nie genug anstrengen, rechtfertigen, die Ordnung stützen, unterordnen. Besser, man bückt sich im Zweifelsfall tiefer. Man muss sich 'verantworten', all sein Leben lang, und bleibt doch ohne Absolution. Der von der kirchlichen Gnade 'Freie' ist fortan ein hoffnungsloser Sünder - es sei denn, Gottes Wille hat ihm zum Fürsten bestimmt.

In der Moderne sind die Fürsten Oligarchen, die Sünder nach wie vor Sünder, denen man ihre Eigenverantwortung einbläut. In der neuen Hölle erzählt man ihnen, sie seien nicht bloß selbst schuld, sondern sie - als Menschen - selbst ihres Glückes Schmied, denn das Ganze sei die Summe des Willens der Einzelnen und jeder einzelne Wille der Grund für das dazugehörige Los. Alles eine Frage der Mühe, der Einsicht, der Hingabe. Der Kontostand, so die Auslegung der Calvinisten und Kapitalisten, ist dabei der Indikator dafür, was man so 'verdient' hat (an Gottes Gnade).

Das, liebe Freunde des freien Willens, ist die ideologische Basis für den bekloppten Irrglauben an die Macht der Menschen, ihren Willen und wie man diesen bloß gestalten müsste, um jene zur Glückseligkeit aller einzusetzen. Es hat in der Geschichte der Menschheit noch kein Land gegeben, keine Gesellschaft und keinen Staat, deren Form, Wohl und Wehe von irgendeinem menschlichen Willen abhing. So etwas wird es auch niemals geben.

 
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(Zu Teil 1)

Das Bildungssystem, insbesondere das deutsche, ist eine ganz eigene Erzählung, Der freidrehende Fleiß, dessen Produktivität bei der Massenvernichtung ebenso zuverlässig wirkt wie bei der Massenproduktion, folgt einer Leistungsreligion, deren Gottheit ebenso unsichtbar und außerweltlich bleibt wie ihr Vorgänger im Himmel. Es ist nicht nachweisbar, eher schon widerlegbar, dass einen Zusammenhang gebe zwischen Leistung und Einkommen, aber das ganze System ist durchzogen von Sinnsprüchen, die das Gegenteil behaupten.

Schon in der Grundschule werden Karrieren zerstört, lange bevor so etwas wie Leistungsfähigkeit und kognitive Reife überhaupt beurteilt werden können. Das wird auch von niemandem bezweifelt, den auch nur ein Hauch von Sachkompetenz umweht. Warum ist es dann noch immer so? Hat sich doch bewährt! Sehr zuverlässig ist schon an den Gymnasien das Gros der Unterschicht ausgesiebt. Was von denen noch an der Uni ankommt, frisst nicht allzu viel Brot. Spätestens bei der Drucklegung der Dissertation kann man das noch ausbremsen, und selbst wenn es jemand zur echten Bildungselite schafft, ist das ja keine Garantie auf einen Platz im Stall der Superhengste.

Den Armen helfen

Wie reagiert der sozialdemokratische Teil des Systems, der noch Mitgefühl simulieren muss, darauf? Nicht etwa so, dass die Klassenschranken und Schützengräben im System auch nur diskutiert werden. Ihre Antwort sind Bildungsalmosen. Vielleicht lernen sie ja wenigstens, mit Messer und Gabel zu essen, die "Bildungsfernen".

Das war übrigens früher® keinesfalls besser. Zu meiner Grundschulzeit gab es noch Noten im Bereich "mündlicher Ausdruck"; da konnte man die Kinder gleich ungehemmt für ihre Herkunft bestrafen. Allein dass in der Unterschicht eine andere Grammatik, ländlich auch noch eine ganz andere Sprache vorherrscht, ist ein ein kaum beachtetes Problem. Das Bildungssystem ändert nichts an diesen Makeln, weil sie erwünscht sind, und zwar vor allem von denen, die den Betrieb besorgen. Die Mittelschicht hält sich hier erfolgreich Konkurrenz vom Hals.

Selbsthilfe abgelehnt

Ein Weiteres tut der Einfluss der Eltern. Während eben diejenigen, die ihren Stand verteidigen, dies recht forsch tun und aktiv auf das Geschehen Einfluss nehmen, sind diejenigen, deren Kindern benachteiligt sind, zum Schweigen verdammt. Die Rollen sind klar verteilt: Hie die Leistungsträger und Helikoptereltern, dort die Versager, denen stillschweigend jede Kompetenz in Bildungsfragen abgesprochen wird. Wenn Schantall Probleme hat, liegt das an ihr oder ihrer Hartzer-Familie, ganz sicher nicht an der Schule oder ihren Lehrern. Wenn Sie anderer Ansicht sind, lernen Sie erst einmal, das in angemessener Form vorzubringen!

Die Mär von der Durchlässigkeit, von Gleichberechtigung und Demokratie, wird in den Bildungseinrichtungen in Grund und Boden gestampft. Das hat zur Folge und kann nur so funktionieren, dass dieser Umstand ignoriert und umgedeutet wird, wo er nicht geleugnet werden kann. Dann werden halt "Anreize" geschafft für die "Bildungsfernen" und der "Eigenverantwortung" überlassen. Wenn die Dynastien der Asozialen davon keinen Gebrauch machen oder nur Geld für das Essen ihrer Brut sparen, ist das schließlich der Beleg dafür, dass sie gar nicht wollen. Da kann man dann nix machen.

((Zu Teil 3))

 
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Ich hatte eh eine quasi literarische Frage im Vorlauf, als ich dieses Gespräch las. Eribon analysiert die aktuelle politische Situation immer wieder präzise; was ihn aber vielleicht noch mehr auszeichnet, ist sein Stil. Er erzählt oft anstatt zu dozieren, womit er mehr Menschen erreicht. Dabei verliert sein Blick keineswegs an Schärfe. In dem verlinkten Gespräch geht es außerdem um Bildung und die Frage, ob es ein Entrinnen aus der Klasse gibt, der man abgehört (also in der Regel der Arbeiterklasse).

Ich werde einmal versuchen, das zusammenzuziehen. Aufklärung und Bildung waren nie unmittelbar mit der Idee verbunden, Klassenschranken zu überwinden. Aufklärung war eine Waffe gegen den Adel, dann aber gleichsam für die Bourgeoisie als neue Herrscherklasse. Die Bildungskonzepte der frühen Moderne wie bei Humboldt sahen ebenfalls höhere Bildung nur für höhere Söhne vor. Erst die Nachkriegszeit öffnete kurz das Fenster zu einer Bildung, die Aufstieg ermöglichen sollte. Es wurde halt eine neue industrielle Mittelschicht gebraucht.

Ungenutzt

Mit dem Internet sind Möglichkeiten zu Information und Bildung gegeben, von denen man noch vor einem Wimpernschlag der Geschichte kaum träumen durfte. Wir wissen, wie viel Gebrauch davon gemacht wird. Dass die Menschen, vor allem die Arbeiterklasse, auf das Potential von Bildung verzichtet, ist erst in letzter Instanz eine durchaus beklagenswerte Faulheit. Sie ist vor allem Ergebnis der Erziehung, der Konditionierung von Menschen in den Schulen und anderen Einrichtungen.

Man kann die Gegenaufklärung mit Händen greifen. Die Errungenschaften des 18. Jahrhunderts sind eine Art Wandschmuck, und wo es nicht verboten wird, verschwindet auch der noch hinter einem Kruzifix. Ich kann es noch immer kaum begreifen, wie in allen Schulformen regelmäßig die Kinder sprichwörtlich auf die Knie gezwungen werden. Wie viel Zeit mit Beten und mystischem Firlefanz zugebracht wird und wie wenig mit einer Erziehung zur Mündigkeit.

Zurechtgestutzt

Die Kirchen, deren Anhängerschaft dahinschmilzt, haben nach wie vor Bildung und Politik im Würgegriff ihrer teils verfassungsmäßig gesicherten Verdummungsmaschine. In/im Bewusstsein der "Verantwortung vor Gott und den Menschen" heißt es in den Verfassungen von Bund und Ländern. Man beachte die Reihenfolge! Die göttliche Ordnung geht vor; Demokratie gibt es nur in diesem Rahmen, das halt, was von ihr noch übrig bleibt. Menschen werden schon in den Schulen zugerichtet, auf dass sie sich der Ordnung unterwerfen.

Das deutsche Schul- und Bildungssystem wird seit Jahrzehnten in Grund und Boden 'reformiert'; Ziel und Zweck dieser Reformen sind Unterrichtsinhalte und die Organisation der Bildungseinrichtungen nach den Anforderungen des 'Arbeitsmarktes'. Die wichtigste Funktion des Bildungssystems ist dabei gar nicht Gegenstand der Diskussion: Die Klassenzugehörigkeit festzulegen. Das ist kein Nebeneffekt. Im Gegenteil steht und fällt jede Möglichkeit von Bildung mit dieser Funktion.

(Zu Teil 2)

 
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Meine Haltung hier gerät gern mal zwischen die Stühle; ein Platz, an dem ich mich sehr wohl fühle. Im puncto Staat, Recht und Gesellschaft wird es zunehmend schwer, durch gewisse Filterblasen zu dringen. Ich versuche daher noch einmal eine Art Standortbestimmung: Ich lehne diesen Staat ab - weil ich alle Staaten ablehne. Ich werde unter seine Gesetze gezwungen und bin nicht der Ansicht, man hätte hier als Bürger auch nur annähernd einen Einfluss auf diese Gesetze. Obendrein stellen diese das (Privat)Eigentum über essenzielle Interessen der Menschen.

Ich kann mir eine bessere Gesellschaft sehr konkret vorstellen und versuche einiges zu tun, um sie irgendwann erreichbar zu machen. Es gibt andererseits schlimmere Verhältnisse, was ich nicht zuletzt daher weiß, dass sie sich zunehmend verschlechtern und in vielen Staaten, die unserem gar nicht unähnlich sind, auf offenen Faschismus zutreiben. Siehe Türkei, siehe Ungarn, Polen und tendenziell auch Frankreich und die USA.

Zurück zum Katechismus

Was daraus folgt, ist zunächst einmal, dass ich keineswegs, wie hier direkt rechts von mir gern behauptet wird, kompromisslos "revolutionär" wäre und gegen jede Art von Reform oder Diskussion. Im Gegenteil. Ein paar Jahre zurückblickend (yo, das sind im Blog schon mehr als zehn), komme ich aus der sozialistisch-demokratischen Ecke, aus der ich auf die (neoliberalen) Gewalttäter geschimpft habe, die fröhlich Löcher in die Bürgerrechte geschossen und die Menschen zunehmend versklavt haben - weil ihnen selbst die im Grundgesetz verbrieften Rechte de facto genommen werden.

Es ist nur konsequent, zumal wenn man diskutiert und zuhört, daraus noch ganz andere Schlüsse zu ziehen: U.a. den, dass die Bürgerliche Gesellschaft eine Fehlkonstruktion ist, die nicht zufällig immer wieder in Faschismus mündet. Das beginnt damit, dass sie "Freiheitsrechte postuliert, die sie aufgrund ihrer Eigentumsverhältnisse gar nicht einlösen kann" (Raul Zelik) und endet eben damit, dass sie in den unvermeidlichen Krisen des Kapitalismus die Menschenrechte opfert, weil sie im Kampf um Profite zu teuer werden.

Was dabei passiert, ist eine Art religiöser Rollback: Eine der herausragenden Leistungen des Bürgerlichen Rechtsstaats ist die universelle und unterschiedslose Gültigkeit des Rechts für jedermann - selbst wenn das nur ein Versprechen ist. Darin treffen sich zwei Momente, die mir ollem Anarchisten sehr am Herzen liegen: Vor dem Gesetz gibt es keine Herren und keine Sklaven, und religiöse Moralregeln sind damit definitiv abgeschafft. Diese Errungenschaften werden wieder kassiert, wenn die Prinzipien, auf denen dieses Recht beruht, aufgeweicht werden.

Gott hasst dich

Religiöse Gerichtsbarkeit macht Recht und Unrecht von einem Bezug auf etwas Göttliches abhängig. Was gottgefällig ist oder nicht, kann nach Belieben von den Hütern der Moral bestimmt werden, und obendrein gibt es Unterschiede in der Behandlung der Menschen, über die geurteilt wird - weil der Mensch in seinem Wert, seiner Stellung vor dem Göttlichen, als ganzer beurteilt wird. Das Bürgerliche Recht beendet dieses Spiel endgültig, indem einzig die Tat beurteilt wird und nicht mehr der Mensch. Einschränkend muss man hier nur sagen, dass der Begriff "Schuld" noch religiöse Anteile hat. Da müsste man noch korrigieren.

Bürgerliches Recht ist radikal säkular, weltlich, aufgeklärt. Egal wer du bist, es wird hier nur beurteilt, was du getan hast. Von diesem Prinzip gibt es keinerlei Abweichung. Es gibt keine Ketzer, keine Heiligen und keinen Gott. Vor allem aber: Es gibt das Böse nicht. Jede Religion hat eine Projektion des Bösen, das mit allen Mitteln bekämpft werden muss, das keine Rechte hat und vernichtet werden soll. Nicht so der Rechtsstaat. Religionen unterscheiden in 'wir' und 'sie'. 'Sie' sind minderwertig, rechtlos und dürfen ggf. sogar ausgelöscht werden. Solche Unterscheidungen und Ausnahmen sind im Bürgerlichen Recht getilgt.

Es sind diese Unterscheidungen und Ausnahmen vom Recht, die Herren und Sklaven ausmachen, die den Rechtsstaat und seine Prinzipien zerstören und Terrorherrschaft begründen. Willkür und Mystizismus brechen überall da durch, wo die Universalität des Rechts endet. Wo dieses Tor einmal offen steht, werden sie einziehen. Auch das ist ein Grund, warum in einem Rechtsstaat auch Nazis und sonstiges Gesocks vor Zensur und Gewalt bewahrt werden müssen. Ich halte daher u.a. das Gesetz gegen 'Holocaustleugnung' auch für schädlich und dumm. Von Zensurmaßnahmen auf Youtube und Facebook und 'Ausnahmezuständen' ganz zu schweigen.

 
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Der Rechtsstaat bröselt weltweit, vor allem im 'Westen'. Die Demokratie heißt noch so, weil sie als herrschende Religion in Ritualen immer wieder so genannt und als das 'Gute' zu Geltung gebracht wird. Tatsächlich ist ihr Kern verrottet. Wir sind hinter die Errungenschaften des 18. Jahrhunderts zurückgefallen. Es herrscht de facto das Feindrecht, und genau das wurde einst durch die Bürgerliche Demokratie und ihren Rechtsstaat abgeschafft.

Das Gewaltmonopol des demokratischen Staates ist eines Errungenschaft, die sich die Bürger und Arbeiter gegen den Staat erkämpft haben. Es ist nur verliehen, was in jeder maßgeblichen Verfassung steht, im GG Artikel 20: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus". Das bedeutet erstens das Ende eines Jahrhunderte währenden Verhältnisses, nämlich das vom Untertan zur Herrschaft. Staat und Bürger sind gleichberechtigt. Im Zweifel ist es der Staat, der sich rechtfertigen muss und der verändert werden muss, wenn die Bürger es so wollen. Dieses Verhältnis wurde wieder umgekehrt.

Zurück zum Feindrecht

Maßgeblich dafür ist das US-Regime unter George W. Bush, das - quasi verbindlich für alle NATO-Staaten und in der Folge für die EU und weitere - das Feindrecht über die Prinzipien des Rechtsstaats gestellt hat, und zwar im Inneren wie im Äußeren. Zunächst wurden Folterlager und Mordkommandos ausschließlich jenseits des Territoriums der USA betrieben, gleichzeitig aber bereits Bürgerrechte eingeschränkt und demokratiefeindliche Strukturen mit einer umfassenden Macht ausgestattet. Spätestens damit hat der Staat keine Legitimation mehr für sein Gewaltmonopol.

Geheimdienste, die in den USA von Faschisten der McCArthy-Fraktion mithilfe von Nazis aufgebaut wurden und vor allem umgekehrt, waren von Anfang an ein Schandfleck für Demokratie und Rechtsstaat. Im Kalten Krieg mag man diese noch als Sicherheitsmaßnahme betrachtet haben, aber solche undemokratischen und konspirativen Einrichtungen bedürfen dann strengster Kontrolle. Diese findet effektiv gar nicht mehr statt. Die Dienste weigern sich sogar, ihren Kontrolleuren die nötigen Informationen zu geben. Dafür bekommen sie dann mehr Geld und noch mehr Befugnisse, das Recht zu missachten.

Damit ist wie gesagt das Gewaltmonopol hinfällig, denn vor diesen Einrichtungen haben die Bürger keine Rechte mehr. Von der Privatsphäre bis hin zum Recht auf Unversehrtheit von Leib und Leben wurde es ihnen genommen; sie sind wieder Untertanen. Obendrein werden die maßgeblichen Organe dieser Unterwerfung nicht gewählt, nicht kontrolliert und haben keine zeitliche Begrenzung. Man nennt sie daher auch "tiefen Staat". Gleichzeitig werden auf Staatsebene immer mehr Verabredungen getroffen (sogenannte Freihandelsverträge, Kriege, Finanzpolitik), die keinem rechtlichen Standard standhalten. All dies hat das Recht der Staaten, über ihre Bürger zu herrschen, untergraben.

Erosion

Die Entwicklung der Weltwirtschaft, d.h. des Kapitalismus, sorgt derweil dafür, dass immer mehr Menschen verarmen und die Arbeitsbedingungen immer schlechter werden. Der Neoliberalismus hat u.a. für Arbeitszwang und Lohndumping gesorgt. Viele Bürger haben also gar nichts mehr vom ursprünglichen Vertrag zwischen Bürger und Staat. Sie sind vielmehr in jeder Hinsicht dessen Gegner. Noch können viele durch die eingangs geschilderte Religiosität der Restdemokratie mental unter Kontrolle gehalten werden, aber auch das wird immer schwerer, weil die nötigen Manipulationen eine weitere Säule der Demokratie gesprengt haben: den Bezug auf Vernunft.

Schon moralisch nicht mehr haltbar, macht sich die staatliche Herrschaft durch ihre Techniken zunehmend lächerlich. Aussagen von Politik und Medien werden immer öfter widerlegt; in den USA regiert gar ein böser Clown. Dies führt wiederum dazu, dass sich ausgerechnet die Vernünftigen abwenden, weil sie nicht mehr durchdringen. Was bleibt, ist irrationale Parteilichkeit. Du bist für etwas oder dagegen, Gründe sind hinfällig - das gelebte Feindrecht als Politik. Es war aber Vernunft, die überhaupt erst den Glauben an Gleichberechtigung ermöglichte - und sei es nur die von Handelspartnern.

Verträge beruhten auf nachvollziehbaren Prinzipien, Eindeutigkeit, Schlüssigkeit, Prüfbarkeit. Abweichungen wurden unter dem Primat dieser Prinzipien verhandelt. Das Recht des Stärkeren und des Fürsten wurde durch freiwillige Vereinbarungen ersetzt. Dies ist das Prinzip des demokratischen Rechtsstaats. Dass dieses Prinzip immer durch faktische Macht eingeschränkt war, ist nicht zu leugnen, inzwischen aber dient es nur mehr als Feigenblatt. Die Stärkeren haben die Macht und lassen sich nicht mehr einschränken. Das Gewaltmonopol ist ein reines Machtmittel geworden. Seine moralische und juristische Autorität ist zerbrochen.

 
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Beginnen will ich mit einem etwas seltsamen Artikel von Michael Wendl. Er hebt an mit einem Blick auf die ökonomischen Hintergründe des AfD-Programms und liefert in diesem Rahmen eine schöne Zusammenfassung neoliberaler Theorien. Insbesondere die quasireligiöse Macht des Marktes (Hayek) wird dort schön dargelegt. Ärgerlich allerdings, dass Wendl, der bis zum Schlussabsatz mit Recht von "Vulgärmarxismus (bzw. -Leninismus)“ spricht, dann dieses Fazit zieht:

"Letzteres liegt darin begründet, dass Marx geldtheoretisch auf der Höhe seiner Zeit war; aber diese Zeit war vom Goldstandard und vom Gold als Weltgeld geprägt. Erkenntnisfortschritte über Marx hinaus können sich Marxisten offensichtlich nicht vorstellen."

Plötzlich sind es alle Marxisten, und Marx ist wieder 19. Jahrhundert und Goldstandard. Während Marktökonomen von Hayek bis Keynes inhaltlich dargestellt werden, gibt es auf der anderen Seite nur vorgestrige Deppen. Marx hat trotz Goldstandards bereits alle(!) Wirkungen des Kapitalismus beschrieben, die heute dank endloser Kreditschöpfung eine entsprechende Beschleunigung erfahren. Für Marxianer gibt es kein "raffendes Kapital".

Raffendes Kapital

Die Kritik geht völlig ins Leere. Um wie immer am Kreidestrich stramm zu stehen, wird wieder und wieder das Argument gebracht, Newton habe Unsinn erzählt, weil er keine Ahnung von Raumkrümmung hatte. Pff, Theorien des 17. Jahrhunderts, der Mann war Alchemist! Wer sich auf Newton beruft, muss ein Idiot sein. Wer heute noch Marx zitiert, erst recht. Marxisten können nur Marx und keinen Markt.

Machen wir einen Sprung nach vorn (obwohl das nicht geht, ich bin ja Marxist, ich kann das gar nicht): Ich habe hier in den Diskussionen schon häufig die Vorstellung angesprochen, der Todeskampf des Kapitalismus könne auf eine Reihe von Resets hinauslaufen. Im Grunde ist das nichts Neues; das macht er immer schon. Währungsreformen, Kriege, 'Staatspleiten' sind solche, und im Grunde kann man auch den 'Brexit' als einen betrachten. Ein 'Grexit' wäre ganz sicher einer. Alles auf Null stellen und von vorn anfangen.

Das hat oft gut funktioniert. Ich gehe hier nicht näher darauf ein, dass m.E. diese Resets heute nicht allzu lange wirken können, weil die Konzentration von Kapital und der Mangel an lebendiger Arbeit ('Arbeitsplätze') immer schneller in neue 'Krisen' führt. Ich möchte hier nur darauf aufmerksam machen, dass die Wirkung von Resets in den ökonomischen Theorien und politischen Konzepten zu kurz kommen.

Hat doch toll funktioniert

Wie immer sind meine Freunde, die Sozialdemokraten und Keynsisten da ganz weit vorn. Wenn diese von den tollen Konzepten der Nachkriegszeit schwärmen, ignorieren sie mit furioser Sturheit die Tatsache, dass der ganze Glanz durch Wiederaufbau und andere günstige Faktoren bestimmt war. Sie raffen es nicht. Von der anderen Fraktion, den neoliberalen Voodoo-Experten mal ganz zu schweigen, die von Anfang an nichts anderes gemacht haben als virtuose Konkursverschleppung. Immer, wenn sie genug Erde verbrannt haben, räumen andere auf, bis der nächste mit denselben großartigen Ideen die nächste Diktatur errichtet.

Nehmen wir das einmal ernsthaft positiv: Die Märkte sind halt so und brauchen ab und zu einen Reset. Wenn der ganze Pfusch an den Rahmenbedingungen mit Finanzprodukten, ESM, Kriegen um Rohstoffe und Einflusszonen et cetera, dann doch nicht mehr hilft, kommt es ohnehin dazu. Weltkrieg oder New New Deal oder Währungsreformen oder oder. Denkt man das zu Ende, kommt man sogar wieder beim fairen Wettbewerb® aus: Wenn beim 100-Meter-Lauf der Vorsprung des Siegers jeweils beim nächsten Mal angerechnet wird, ist das nach neoliberalen Grundsätzen heute "fairer Wettbewerb". Annähernd fair wäre aber nur einer, der immer wieder bei Null beginnt.

Konsequenz aus dieser Idee wäre ein System, das von vornherein den Reset einplant. Sagen wir: Ihr habt jetzt zehn Jahre Zeit, rauszuholen, was drin ist, dann fangen wir von vorn an. Das wäre eine Form von Kapitalismus, die alle Erkenntnisse über ihn berücksichtigt. Einzig die endlose Akkumulation wäre durchbrochen. Ich frage mich: Könnte so etwas funktionieren? Entspräche es nicht sogar eher der Beschreibung der 'Marktwirtschaft' in den einschlägigen Theorien? Wäre das die einzig konsequente Form, mit unvermeidlichen Krisen bewusst umzugehen?

p.s.: Das ist kein Vorschlag, es ist ein Denkmodell.

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