Links

September 2015


 
gz

Der Screenshot im letzten Artikel, aus 2005, ist ein guter Anlass für einen näheren Rückblick zum Jubiloim. Es ist ein Kommentar zu einem Interview mit Norbert Röttgen (btw: die Halbwertszeit seine Versagens scheint um zu sein, ich sah ihn neulich über eine Mattscheibe huschen) und Heiner Geißler. Den letzten Satz hatte ich bereits einmal aufgewärmt, um deutlich zu machen, dass ich das heute völlig anders sehe. Hier das Zitat aus der Passage davor:


“Entschuldigung, Heiner, dazu hat der Staat doch gar nicht das Recht. Er kann doch dem Eigentümer nicht sagen, er dürfe kein Interesse an der Rendite seines Unternehmens haben, weil er sonst ein Spekulant sei.”

Abgesehen von der rhetorischen Übung, das Augenmerk auf das Interesse des Spekulanten zu richten, obwohl es um die Wirkung seines Handelns geht, zeigt sich hier klar, wie Ökonomismus funktioniert: Dem “Staat” wird ein Recht abgesprochen, während der “Eigentümer” geschützt werden muß. Diese Umkehrung der Sozialbindung des Eigentums geistert unter dem (falschen) begriff “Neoliberalismus” durch die Debatten. Dazu gehört selbstverständlich, daß “staatliche Eingriffe in die Wirtschaft” böse, falsch und fatal seien.
Wer aber soll die Menschen vor den katastrophalen Entscheidungen der Verwalter von Geldlawinen schützen, wenn nicht der Gesetzgeber?

Diese Auswüchse

Das Modell ist das der sozialdemokratischen bzw. keynesianischen Glaubensgemeinschaft: Der Staat sorgt für die soziale Marktwirtschaft®, indem er die ‘Auswüchse’ verbietet. Da oben werfe ich Röttgen vor, abzulenken, indem er eben so tut, als sei das Profitinteresse von Unternehmern dasselbe wie Ausbeutung, das Ausbluten der Staaten und die Konzentration riesiger Gewinne und Vermögen.

Tja, Röttgen hatte recht, auch wenn er das nie zugäbe. Es ist nämlich dasselbe: Kapitalismus. Nachdrückliche Eingriffe des Staates gegen Profitinteressen sind dasselbe wie Eingriffe, die das Entstehen großer Vermögen und Profite verhindern. Dass die sich in der Hand weniger großer Konzerne konzentrieren, ist ebenso logisch wie dass der Druck auf die Löhne Teil der unausweichlichen Krise ist, die Profite eben schwierig macht. Sowas kommt von sowas.

Selbst wenn der Staat wollte, wäre das u.a. an zwei Bedingungen geknüpft: Erstens müssten seine Organe im Zeitalter der Hyperreichen gegen Korruption immun sein. Das ist zumindest paradox. Zweitens müsste er die Mittel dazu haben und sie anwenden. Der Staat müsste auf jede missliebige Entwicklung der Wirtschaft lenkend reagieren, er wäre eine Art Wirtschaftsdiktatur mit Freiheiten, die jederzeit eingeschränkt werden könnten. Planungssicherheit wäre für Unternehmen unmöglich. Wozu dann überhaupt ‘Marktwirtschaft’?

Si tacuisses

Letztere hat sich aber noch nie solche Ketten anlegen lassen, denn sie ist eben nur ein Gewand des Kapitalismus, und der sprengt jede Grenze, das liegt in den Prinzipien, nach denen er funktioniert. Demgemäß ist das Peinlichste da oben das rührende Pochen auf eine “Sozialbindung des Eigentums”. Eigentum an Produktionsmitteln bedeutet, dass der Eigentümer sein Eigentum vermehrt oder verliert. Da der Staat dieses Eigentum aber garantiert, muss er schon politisch dafür sorgen, dass die Priorität auf die Vermehrung des Eigentums gelegt wird. In sehr guten Zeiten kann da auch etwas für Besitzlose abfallen. Ist das dann “Sozialbindung”?

Nein, im Gegenteil liegt es in der Struktur der Verhältnisse, dass es eine Eigentumsbindung der verfassten Gesellschaft, sprich: des Staates gibt. Die Behauptung, es könne den umgekehrten Fall geben, ist absurd. Eine nette Idee, aber eben logisch unmöglich, wo aus Geld mehr Geld gemacht werden muss.

 
frdw

Die Zeiten sind hart, und oft tut es mir leid, dass ich nicht umhin komme, das hier auch noch zu betonen. Obendrein bin ich aus privaten Gründen nicht so schrecklich unterhaltsam in den letzten eineinhalb Jahren. Hier ist Leben in jeder Hinsicht auf Notstrom, davor scheut die Muse wie das Reh vor dem Investor. Oder so. Sorry for that.

Immerhin, ich muss feiern, da hilft ja nix. Immerhin, das zehnte Jahr ist auch rum, und Kummer oder Jammern hin oder her, es ist noch immer nicht genug. Ich bin recht froh, dass ich Ende 2013 einen guten Dreh gefunden habe, mich nicht weiter unter Druck zu setzen, sodass mir das Blog inzwischen wieder guttut. Kann ich gut gebrauchen, und es ist kein großes Geheimnis, dass das an euch liegt. Die inzwischen gängige Bezeichnung “Opener” für meine Texte sagt da alles.

Those were the Days

Alle Jahre wieder ein Blick zurück. Das mache ich natürlich aus meiner Sicht, wie auch sonst. Vor zehn Jahren habe ich begonnen, die alte Idee eines politischen Tagebuchs umzusetzen, die recht bald zu einer Vernetzung mit ‘linksliberalen’ Bloggern geführt hat. Ich bin noch immer links und liberal (das kommt für mich von „Toleranz“), aber in den Jahren wieder bei Marx, einem anarchistischen Fundus mit radikaldemokratischem Einschlag und jenseits der parlamentarischen Demokratie gelandet. Andere trampeln auf der Stelle oder haben sich nach rechts in die transatlantische Gemütlichkeit verabschiedet. Farewell!

Was hatten wir nicht alles: Kommentarschlachten mit und ohne Trolle, Wahlaufrufe, Linksrutsche, Albereien, Stalker, Spender, Präsidentenrücktritte, beleidigte Journalisten, Kongresse, Relaunches, Duelle, Todesfälle, Blogschließungen, Drohungen, Blues, Pausen, Aufstieg und Abstieg, Kritiker, Anhänger, Neider, Gitarren, Bilder, Preise und die Diele des Grauens – um nur das Wichtigste in einer ausgeklügelten Reihenfolge zu nennen.

Eine große Zukunft

Auch nach zehn Jahren gibt es noch Ideen, die nicht zur Sprache kamen und Möglichkeiten, die nicht genutzt wurden. Die Friedhofsbank, auf der man wartet, bis man dran ist, steht woanders. Der Mensch lebt auch in einer Zukunft, die nach ihm kommt. Schmeichler haben mich mit Ossietzky und Tucholsky verglichen. Ich Pfau hab’ mir einen drauf gehobelt, bis ich bemerkte, dass man mir wohl nur ein gewaltsames Ende wünschte. Die Einladung zum Suizid muss ich aber ebenso zurückweisen wie ein Ende als Märtyrer.

Neben dem ganzen Konfettiregen, der in den Kommentaren gleich über mir niedergehen wird, bin ich nach wie vor dankbar für Anregungen. Vielleicht mache ich ja sogar ein Fashion-und Beautyblog aus Feynsinn. Kommt, ihr wollt es doch auch!

p.s.: Bei der Gelegenheit einen besonderen Dank an meine edlen Spender und der dezente Hinweis auf die geänderte Kontoverbindung.

 
fr

Der einzige bekennende Rassist, dem ich bislang begenet bin, war ein Perser. Er war überzeugt, dass Perser Arier seien und die eine überlegene Rasse. Das sieht man ja schon an den Riesenunterschieden zwischen iranischen Mullahs und arabischen. Gar kein Vergleich!

Der Teutone ist da anderen Schlages. Er erinnert sich seiner rassischen Qualitäten vornehmlich dann, wenn er sonst nichts kann. Was ihn aber vor allem auszeichnet: Er würde nie zugeben, ein Rassist zu sein. Er weiß einfach, dass der Jud’ seine Finger im Spiel hat, der Neger gern schnackselt mit seinem Big Bamboo und der Araber eine Minderintelligenz einschleppt (seine letzte Hoffnung), aber das gilt ihm nicht als Rassismus. Auch dass die Durchrassung und Durchmischung des Volkes® den Untergang bedeutet, hat nichts mit Rassismus zu tun; das ist Wissenschaft.

Immer wertschätzend

Vielleicht hat er im Kern gar nicht unrecht. Es geht ihm gar nicht vorrangig um die Rasse der Minderwertigen, sondern um deren Minderwertigkeit. Eigentlich ist er da flexibel. Auch Arier können und dürfen minderwertig sein, zumal wenn sich gerade kein Fremdrassiger findet, den man abwerten kann. Der Umgang miteinander in diesem Land ist stets wertschätzend. Jeder hat einen Wert, wird ständig geschätzt und am liebsten eben abgeschätzt. Was einer ist, das ist er, egal ob das vom Haben oder Tun kommt, denn am Ende geht es eben um den Wert.

So ist das auch mit dem Syrer, dessen Wert in seinem Nutzen und im Auge des Betrachters liegt. Hans-Werner Sinns ifo hat bereits begutachtet, dass der Syrer nicht produktiv ist. Ist er nicht, der Syrer, das liegt halt im Blut. Nützlich ist er hingegen, wenn er hilft, den furchtbaren Mindestlohn abzuschaffen. Darüber wird man wohl mal reden dürfen. Nützlich könnte er auch sein, wenn er Forscher ist. Forscher sind gute Syrer.

Wie gesagt: Alles eine Frage der Bewertung, und wer die Top Scores macht, kann vielleicht eines Tages auch Herrenmensch werden. Das gilt für die nichtsnutzigen Hartzer, wenn sie es schaffen, sich am Zopf aus dem Sumpf zu ziehen wie für die Syrer, wenn sie halt wer sind und das entsprechend vermitteln können. Wer dazugehört und wer nicht, wann sie kommen dürfen und wann nicht, das entscheiden wir. Wir, das ist vor allem die Kanzlerin.

Wir schaffen das

Die hat sich mal wieder anders entschieden. Neulich noch schickte sie ein Flüchtlingsmädchen quasi persönlich nach Hause. Das war ganz im Sinne der Parteilinie. Wenige Tage später öffnete sie die Zäune und ließ sich dafür heiligsprechen. Muss man nicht verstehen, soll man nicht verstehen. Das eine war Recht, das andere ist Gnade, die gewährt der Kaiser halt, wenn es ihm einfällt. Also kommt alle her, auf dass wir eure Forscher behalten und den Rest zurückschicken.

Dass das eine gewaltige logistische Anstrengung wird, weiß der Beraterstab der Bleiernen, die sich dankbar biegen lässt wie es gerade passt. McKinsey wird’s schon richten, denn wenn wir eines sind, dann effizient. Wir schieben auch im Industriemaßstab ab, präzise wie der Maschinenbau. Industriell können wir alles, zumal mit Menschenmassen.

Traditionell schon dürfen wir derweil alles essen und müssen nichts wissen. Was den Stimmungsumschwung der Kaiserin bewirkte, vielmehr wer, und warum. Was der Plan ist, den es ja dann wohl geben muss, wo vorher keiner war. Wer was berechnet hat und zu welchem Ergebnis sie gekommen sind. Was geht’s uns an? Wir werden sie bald haben, unsere guten Syrer und die schlechten. Wir werden unnütze Fresser haben und solche, die uns die Arbeitsplätze wegnehmen. Wir werden weiter Millionen haben, die sich in der sozialen Hängematte pampern lassen. Jeder hat seinen Wert. Der wird ihm ausbezahlt, und je niedriger er ist, desto besser fürs Wachstum®.

 
dr

Was hat die Psychoanalyse mit dem Kommunismus zu tun? Eine Menge, denn in beidem steckt große Philosophie, historisch herausragende Analyse und ein bahnbrechender geisteswissenschaftlicher Fortschritt. Beide wurden in der Praxis zum Vehikel von Sekten, die aus den Theorien ihre Ideologie schmiedeten und den wissenschaftlichen Fortschritt zu einem Rückfall in Mythologie ruinierten.

Die Psychoanalyse Freuds ist philosophisch ein derartiger Fundus an Ideen und Perspektiven, dass es kaum erschöpfend beschrieben werden kann. Als Analyse psychischer Vorgänge, Modell der Menschheitsgeschichte und Grundlage für das Verständnis der Ordnung des Unbewussten ist sie brillant. Als Psychotherapie taugt sie nichts. Was sie mit der Methode der Übertragung erreicht, haben mittelalterliche Klöster ebenso erfolgreich geschafft, indem sie die Patient/innen in heißen Bädern verbrüht haben. Noch bessere Aussichten hat die Therapie, gar nichts zu tun und zu warten bis der Zustand sich von allein bessert.

Das ist natürlich kein Grund, die Praxis, die Struktur und die Seilschaften zu verändern, die dafür sorgen, dass jeder Arzt mit psychoanalytischer Zusatzausbildung den Firlefanz praktizieren darf, während anständig ausgebildete Psychologen verhungern, weil die idiotische Bürokratie ihnen nicht erlaubt, mit den Kassen abzurechnen. Derweil warten die Patienten Monatelang auf einen Therapieplatz. Aber ich schweife ab.

Von der Wissenschaft zur Religion

Kommen wir also zum Kommunismus: Marx hat eine bis heute unerreichte Analyse des Kapitalismus hingelegt, die jedem, der sich nicht vom Tabu über diese Erkenntnis verblöden lässt, die Einsicht bietet, dass Kapitalismus dauerhaft nicht funktioniert. Er wird zwangsläufig instabil, generiert ‘Krisen’, deren Bewältigung nur auf Zeit und durch rücksichtslose unmenschliche Maßnahmen möglich ist. Die Geschichte hat das dutzendfach belegt, regional und global, in Weltkriegen, Diktaturen und Elend. Es kam und kommt immer wieder zu furchtbarer Armut inmitten grotesken Reichtums, und zwar nicht, weil nicht genug für alle da ist, sondern der Kapitalismus nicht mehr Geld aus Geld machen kann, ohne diese Zustände zu erzwingen.

Die Kommunisten haben das erkannt, in aller Welt. In den Riesenreichen Russland und China haben sie Revolutionen erwirkt, woanders sind sie gescheitert, haben gegen die Faschisten verloren; so in etwa in Spanien, Italien, Deutschland. Die USA lassen wir einmal außen vor, der Exkurs geriete zu lang.

Wie so oft, wurde der Tod aus Angst vor dem Leben gewählt. Die Kommunistischen Parteien, die miteinander und mit dem Kommunismus nur der Name verbindet, wurden zu reaktionären bürokratischen Machtapparaten, mit dem Argument, das mache sie stark gegen den Klassenfeind. Die kommunistischen Parteien und ihre Apparate haben sich dabei der autoritären Strukturen des Militärs bedient – ebenso wie es der Kapitalismus zu tun pflegt, dessen Arbeitshierarchien und Machtstrukturen ebenfalls die Effizienz militärischer Planung nachgeahmt haben.

Die Partei hat immer geirrt

Er hat es aber geschafft, ein Vergütungssystem einzuführen, dass nicht bloß den nächst höheren Rang als Belohnung vorhält, sondern in Form des Lohns einen Teil flüssiger Macht, der zuerst das Überleben sichert und dann Luxus ermöglicht – in den guten Zeiten. Gerade die Phase des Aufbaus und der Vollbeschäftigung hat dadurch eine Identifikation der Lohnabhängigen mit den Besitzenden ermöglicht. Das Stöckchen mit dem Leckerlis war erreichbar, sogar die ganze Dose. Ausbeuter und Ausgebeutete schienen sich in einer Win-win-Situation zu befinden.

Die Party hatte aber ein Ende, schon Mitte der Siebziger Jahre. Bis den Lohnabhängigen deutlich wurde, dass es wirklich ihr Gürtel ist und der verdammt eng zu schnallen war, hatten sie bereits jeden organisierten Widerstand geopfert. Es gibt keine Solidarität mehr, keine Gewerkschaften, keine politischen Streiks, keine Partei, die Lohnabhängige vertritt. Nichts mehr.

Die Kommunisten und Kommunistinnen, die vielen, die sie in die KZs gesperrt hatten, die im Untergrund waren oder der inneren Emigration, selbstverständlich auch die, die in Osteuropa ihre Idee der Bonzenpartei geopfert haben, sie hatten uns gewarnt. Sie wussten, wo der Kapitalismus endet, dass seine Versprechen reines Blendwerk sind und am Ende immer Hunger, Krieg und Tod stehen. Sie wollten etwas Besseres als den Kapitalismus, etwas das nicht das Leben dem Mehrwert zum Fraß vorwirft. Ihre Parteien sind im großen Irrtum gescheitert, nur eine möglichst mächtige Organisation könne eine bessere Zukunft schaffen. Das war ein fataler Irrtum. Welche Ironie: Die Partei hat geirrt, nur die Kommunisten hatten recht.

 
lt

Reingefallen, mal wieder. Fehleingeschätzt, wie alte Männer das so zu tun pflegen. Ihr wisst schon, die Jungs, die immer noch alles taxieren, was nicht bei drei auf dem Baum ist und für die es zwei Definitionen von “alt” gibt: Erstens Frauen, die nicht mindestens zehn Jahre jünger sind und Zweitens können wir ein anderes Mal besprechen. Eigentlich wusste ich das ja und hatte bereits vor Jahren gesagt, das sei das letzte Mal, aber ich bin ja fit. Wer vierstellige Kilometerzahlen pro Jahr und zehn Prozent Steigung zum Frühstück frisst, kann ja wohl ein paar Treppen hoch und runter laufen.

Ich gestehe: Ich habe schon wieder jemandem beim Umzug geholfen. Alles richtig gemacht und wegen ewig Rücken wirklich in jeder Höhe alles fein aus den Beinen gehoben. Ich hatte seit dreißig Jahren, wenn überhaupt jemals, nicht mehr einen solchen Muskelkater. In den Beinen. Ich. Scheiße, ich bin wirklich zu alt für so etwas. Seid so gut und erinnert mich gelegentlich daran.

Alles so schön bunt

Ich frage mich manchmal, ob diese Form der Verblödung unvermeidlich ist und selbst unsereiner am Ende noch eingefangen wird von der Bilderproduktion, die einem ständig vorgaukelt, man müsste und wäre. Jung, dynamisch, bescheuert. Der Kollateralschaden, den schon das frühe Wirtschaftswunder® derbe ausgelebt hat, die Lüge von der ewigen Party, unendlichem Komfort, Lust ohne Reue, weiß und weich zugleich. Das Lenorgewissen strahlt, und Mutti greift zu, weil alles gut ist. Ein Glasreiniger warb vor Jahrzehnten mit dem Spruch “Mit Super Salmiak”, um nach der Grünen® Gehirnreinigung mit der Riesenwaschkraft den Slogan “Ohne Salmiak!” der nächsten Generation um die doofen Ohren zu hauen.

Ich bin so frei, Dingscafé ist dabei, ich will so bleiben wie ich bin, da weiß man, was man hat, Blabla muss mit, Tilly spült ihre Hände in Quietschsauber, während Villarriba schon wieder Ex und Hopp sexy mini top hop, aber hallo Herr Kaiser! Der freundliche Tankwart empfiehlt wie immer Egal, Hauptsache den Schwanz versichert – Sicherheit mit Dividende! Noch nicht genug? Dann hört euch doch das Gewäsch der Kapitalsauger von Banken und Versicherungen an, denen offenbar keine Slogans mehr einfallen und die deshalb das wehrlose RTL-Opfer minutenlang vollschwallen. Tenor: Du Bank, du, sag’ mir doch mal, warum ich dir ganz dolle vertrauen darf, du, und wie supi du mein Partner bist und dich um mich kümmerst und gäähn …, da lobt man sich am Ende noch die Ficksimulationen der Stinkstofflabore, in denen bis zur Unkenntlichkeit entkleidetes abgemagertes Jungvolk die hervorstehenden Beckenknochen ineinander verhakt, dass es knirscht. Sexy!

So ist das Leben

Wir nehmen das alles hin. Nicht nur das, allen ist bekannt, dass die offizielle Lügenindustrie ganz selbstverständlich die Nachrichtenproduktion finanziert. Kein Verlag, der nicht am Tropf der Werbung hängt. Kein Problem, oder? Tatsächlich haben diese Medien allein deshalb schon den Titel “Lügenpresse” verdient, weil es ihr Job ist: Lügen über Waren zu verbreiten. Lügen, die mit jedem denkbaren Aufwand so gesponnen werden, dass sie wirken, dass niemand merkt, wie alle betrogen werden. Die Zitate da oben kullern mir am Band aus dem Kopf, ich habe hunderte, wenn nicht tausende Slogans verinnerlicht. Ist das kein Schaden? Muss ich das hinnehmen? Ich will jemanden verklagen!

Gegen diesen Clusterfuck ist eine Gemüsezwiebel Kernobst. Lügen finanzieren die gängige Erzählung, die als Wahrheit gehandelt wieder aufgenommen wird. Dabei kommt alles zur Sprache, wird jede Intimsphäre einmal mit dem Bagger durchgewalkt, nur nicht das Eine: Die Notwendigkeit, der die Lügen entspringen, seien sie als “Werbung” oder “redaktioneller Anteil” oder gar nicht mehr deklariert. Im Gegenteil ist es sogar gelungen, nachdem ganz selbstverständlich die politischen Wahrheiten direkt von der Lügenindustrie vorformuliert werden, den Deppen, an die sie adressiert sind, unbemerkt die Eselsmütze aufzusetzen.

Die große Psychose wurde erfolgreich so kalibriert, dass sämtliche Probanden sich nach dem Schleudergang und dem anschließenden All-You-Can-Eat am Halluzinogenbuffet für total souverän halten. “Werbung? Davon lasse ich mich nicht beeinflussen!“. Findet mir zwei Menschen, die sich anders einschätzen. Ergo: Werbung findet gar nicht statt, hat keinen Effekt, schadet niemandem. So muss man das sehen. So ist die Welt halt. So dumm sind die Menschen nämlich nicht. Die wissen doch, dass das ein klitzekleines bisschen geflunkert ist, und solange es nicht wehtut, ist es doch okay, oder?

p.s.: Das Ganze gibt’s auch in der Kurzversion. Die gefällt mir eigentlich noch besser.

 
riv

Wirklichkeit kann witzig sein. Okay, meist ist sie ein wenig deprimierend, zuerst für diejenigen, die relativ einsam sind vor der Höhle der Verblödeten, dann für die anderen, wenn sie sie eben aufgeweckt und ins Licht gezerrt werden. Wenn man aber weit genug zurück tritt und sich das Ganze von außen anschaut, ist es schon komisch, so wie ein Irrenwitz, in dem die Bekloppten Wörtern immer die falsche Bedeutung zuordnen.

Fefe verlinkt einen Arikel der Irish Times, in dem die jüngsten Erfolge ‘linker’ politischer Kräfte wie Syriza, Podemos und Corbyn als Folge des Zusammenbruchs einer konstruierten Wirklichkeit erklärt wird. Da lacht der Zyniker. Die neoliberale Ideologie, ihr Zwiesprech, ihre Schleifen der ewig gleichen Lügen, sie taugen nicht mehr. Das hat seine Logik.

Ganz richtig wird dort erwähnt, dass in Südeuropa, insbesondere Griechenland, die Austeritätspolitik, das Plündern des Staates zugunsten der Profite, einfach sichtbare Fakten geschaffen hat, die sich nicht mehr ohne massiven Einsatz von Drogen in die Erzählung von der segensreichen Marktwirtschaft zwingen lassen. Aber das ist nur ein Symptom. Aus dem Süden des Südens wird sie nämlich derzeit schlicht überrannt, da rutschen sogar Seehofer die einstudierten Phrasen in die hängenden Schultern.

Da sind wir

Das Vielzweckwerkzeug barbarischer Kriege, menschenverachtenden Waffenhandels, der Zerstörung der Menschenrechte im Namen des perfiden Kampfes gegen den Terror, die ganzen Strategien zur Sicherung von Rohstoffen und Handelswegen, fällt sprichwörtlich auf die Mitverursacher zurück. Schwimmend, zu Fuß, zur Not auf allen Vieren, und unaufhaltsam. Die Standardreaktion darauf – Sprüche aus dem Stahlhelm und das Anzünden von Asylbewerberheimen durch Verfassungsschützer und deren Freunde – erweist als nicht ausreichend. Es kommen trotzdem immer mehr. So ist das halt bei einer Völkerwanderung.

Derweil hat sich der Hauptverursacher bereit erklärt, auch 10.000 Flüchtlinge aufzunehmen. Das nenne ich großzügig, nachdem Afghanistan (30 Millionen), Irak (30 Millionen), Libyen (6 Millionen), Syrien (21 Millionen) direkt und die umliegenden Staaten mittelbar destabilisiert wurden. Wie war das noch? Da gab es Terroristen, die wären sonst hierher gekommen. Da könnten die Falschen das gute Öl an sich reißen. Womöglich würde gar einer eine Gaspipeline in die falsche Richtung bauen. Hat eigentlich schon jemand Ukrainer an der Grenze gesichtet?

Jaja, so was kommt von so was, und kaum kommt es raus, springt der linke Spinner aus dem Karton. Eine andere Reaktion der Reaktion war nicht zu erwarten, denn die Mittelschichtshündchen, die den Hoffunk besorgen, werden die Letzten sein, die ihren Meinungsbaukasten von Realitäten erschüttern lassen. Flüchtlinge? Man muss nur diese Schlepperbanden bekämpfen. An allem anderen ist Putin schuld.

Überall Realos

Der eingangs verlinkte Artikel würdigt im Übrigen die neoliberale Wende der “Sozialdemokraten” (u.a. Blair und Clinton) als wichtigen Schritt in Richtung Realitätsverlust. Das ist korrekt, und es gibt eine Ergänzung dazu, die ich für sehr wichtig halte: Epikur weist auf den fragmentierten Widerstand hin, der keiner ist, weil er den Gegner aus den Augen verloren hat.

Das ist die Geschichte der “Grünen”, einer Vereinigung von Bewegungen, die im Ursprung noch wussten, dass ihr Widerstand – gegen Atomkraft, Umweltzerstörung, Unterdrückung, Krieg und Machtkonzentration – einen Fluchtpunkt hatte, nämlich das Kapital. Als Fischer sich zum Führer ausrufen ließ und Auschwitz in Serbien bekämpfte, waren die kommunistischen und marxistischen Wurzeln der Partei bereits verödet, die Basisdemokratie windschnittig zurecht gebügelt und die Ideale der Gründungszeit in die Ausschüsse verwiesen. Dies geschah ebenso im Namen einer “Realpolitik” wie die Entsorgung des letzten sozialen Gedankens auf dem Grund der Agenda 2010.

Die Getretenen haben stillgehalten, die Gemobbten sind draußen geblieben, die Unterdrückten sind in die Depression geflohen. Die Korrupten haben das Ruder übernommen, in den Gewerkschaften, der parlamentarischen ‘Linken’ und überall, wo eben Funktionäre sitzen. Sie haben sich eingeigelt in ihrer rosa Gagawelt und von dort die gültige Wahrheit® verkündet. Das hat erstaunlich lange funktioniert. Bis gestern. Was jetzt kommt? Eine Ahnung hätte ich, aber ich möchte mir nicht dauernd vorwerfen lassen, zu demoralisieren. Begrüßen wir es doch einfach:
Willkommen in der Wirklichkeit!

 
gar

Sozialdemokraten können einen in den Wahnsinn treiben mit ihrem Glauben an einen ‘Willen’, ihre Konzepte unter dem Banner “Man müsste nur …”, ihrer Ignoranz gegen Mächte und Zwänge, die eben alles das verhindern, was in ihrem Kosmos der gute Wille will und vernünftigerweise getan werden müsste. Wir hatten das immer wieder hier, sei es als Kritik gegen die Flying Flassbecks oder gar Heinz-Josef Bontrup, der es besser weiß und dennoch Lösungen vorschlägt, denen entscheidende Interessen und Prinzipien entgegenstehen.

Ich will hier heute aber einmal auf die andere Seite der Sache eingehen, nämlich auf jenen Willen, die Sphäre der Eigenschaften von Menschen, das vorgeblich Gute® oder auch nur Vernünftige, das zu aktivieren wäre, um die Welt zu retten. Es sei sogar so weit eingeschränkt, dass die Frage ausgeklammert wird, ob das selbst im besten Fall zu relevanten Veränderungen führen kann. Dann bleibt immer noch die Frage, wie sich so etwas wie Charakter überhaupt bildet.

Keine Wahl

Ich will diese Frage bei aller Verzweiflung über die ungünstigen Bedingungen gar nicht abwerten, im Gegenteil: Es ist nämlich gar keine gute Idee, dies der Bertelsmann-Stiftung (vulgo: den Schulen) oder den Esos zu überlassen. Was aber kann man tun, um die permanente Überforderung eines respektablen Charakters gegen die Reize einer asozialen Restpersönlichkeit in glänzender Hülle schmackhaft zu machen?

Ein bisschen konkreter: Ich bin Vater zweier Töchter und habe versucht, ihnen zu erzählen, was so ungefähr richtig und falsch ist, gut und gar nicht gut, wahr und falsch. Ich habe sogar versucht, ihnen das halbwegs passabel vorzuleben. Ich fürchte aber, das war gänzlich verschwendet, denn egal, was unsere Generation noch an Illusionen und Idealen, Korruption und Egoismus tradiert hat, es lässt der nächsten keine andere Wahl. Sie können es mit Charakter versuchen und schon früh die Früchte der Depression ernten oder mit Karriere und eben später davon kosten.

Persönlichkeit? Wat dat denn?

Verständlich, dass Sozialdemokraten aller Fraktionen immer noch nach dem Willy schreien, dass sie große Persönlichkeiten suchen, denen sie große Eigenschaften andichten können, auf dass wir ihnen nacheifern. Was wir haben, ist Merkel. Es sind Gabriel, Özdemir, Gauck. Anne Will. Jauch. Dagi Bee und Doggy Dog Kitty Cat. Was wir haben, ist die Entscheidung zwischen Pest und Cholera, Krebs und Aids, in den Geschmacksrichtungen Erdbeere, Vanille, Traumschaum-Motoröl und Leckerlecker-DDT.

Vereinzelt, berieselt, bespaßelt und verhätschelt, belogen und auf stählerne Ellbogen trainiert, kennen schon zwei Generationen keinen Zweck mehr, zu dem man einen Ballast wie Ehrlichkeit, Treue, Zuverlässigkeit oder Zivilcourage bräuchte. Dafür kennen sie für jede Eigenschaft, die es vorzutäuschen oder anzuheucheln gilt, tausend schauspielerische Tricks. Wo ist da Raum für eine ‘Individualität’, die nicht industriell produziert wäre, für ‘Charakter’ und am Ende ‘guten Willen’? Die böse Zunge kann sich hier schließlich doch nicht ganz beherrschen und fragt, in welchem Verhältnis der Wille zum Besseren also zum Zwang der Verwertung steht.

 
jb

Das Offensichtlichste ist manchmal das Unauffälligste. Die Sprachverätzung durch die neoliberale Ideologie ist seit Jahren immer wieder hier Thema, auch wenn viele es nicht mehr hören können. Nein, vor allem deshalb. Die politische Depression funktioniert ganz wie die echte: Ein wichtiges Symptom besteht darin, sich nicht mehr aufzuregen; taub zu sein an allen Sinnen. Das Dauerfeuer der Dummheit, seit 30 Jahren angefacht von sogenannten “Think Tanks” wie der unsäglichen INSM, über ihre Medien und dressierte Politfunktionäre, hat längst alle mürbe gemacht, die noch hören und sehen könnten.

Arbeitsplätze, soziale Marktwirtschaft, Wohlstand, Wachstum, Eigenverantwortung, Leistung, Reformen, Globalisierung, Wettbewerb bla bla bla. Ich hatte bei der letzten Show vor der Bundestagswahl schon in den ersten 5 Minuten zehn mal “Arbeitsplätze” notiert. Wie ein Roboter hat Merkel das Wort wiederholt. Bemerkenswert ist nicht, dass sie es tat, sondern dass der Begriff, von dem sie glaubt, er wirke ‘positiv’, hier draußen niemanden mehr interessiert. Niemand glaubt, dass eine Merkel “Arbeitsplätze” schafft. Alle wissen, welche “Arbeitsplätze” entstehen und dass der Unterschied zur Sklavenhaltung darin besteht, dass man die Sklaven wenigstens durchgefüttert hat.

Tschingbummtäterää

Plapperzombies liefern die Beschallung, über die dann Zahlen erhoben werden. Zuhörer unnötig, mit irrsinnigen Forderungen wie der nach Inhalt wollen wir da gar nicht kommen. Es ist aber nicht wirklich alles egal, wobei daran erinnert sei, dass “egal” “gleich” heißt. Nein, es gibt selbst im Orwellschen Neusprech Vokabeln, die herausragen. Vor dem Hintergrund ihres eigenen gleichgültigen Rindfunks übersehen sie, dass es doch noch Nachrichten gibt, die sie durch den Sermon verbreiten, in denen ihre Absichten ungewollt deutlich werden.

“Ergebnisgerechtigkeit” ist ein semantischer Schlag ins Gesicht, der noch trifft. Ich habe einmal ein Interview besprochen, in dem Lafontaine zwar auf die “Lügenwörter des Neoliberalismus” hingewiesen hatte, aber die Gelegenheit verpasste, den Begriff zu zerpflücken. Er beließ es dabei, das neoliberale Konstrukt der “Chancengerechtigkeit” zurück zu weisen, und zwar nicht als solches, sondern weil die nicht gegeben sei.

Aber genau dieser Ansatz der “Chancengerechtigkeit” ist schon eine üble Falle. Das beginnt damit, dass der Begriff “Chancengleichheit” der Gleichheit beraubt wird, die es nämlich auszumerzen gilt. Darauf setzt dann die Idee auf, dass man alle “gerecht” an den Start stellt, also Große und Kleine, Arme und Reiche, Gesunde und Kranke, und sie dann in den “Wettbewerb” entlässt. Das ist Chancengerechtigkeit. Früher nannte man dieses Kind “Sozialdarwinismus”. Das Konstrukt “Ergebnisgerechtigkeit” ist das Horrormärchen von der “Gleichmacherei”, die Vorstellung, dass die Fleißigsten am Ende alles den Faulsten abgeben müssten.

Fair is Foul

Oh warte, das ist ja tatsächlich so. Während Millionen inzwischen für einen Hungerlohn ackern, können sich andere den ganzen Tag in die Sonne legen. Nur eines ist da anders: Es haben wenige alles und viele nichts. Warum mögen wohl die Trommelschläger der Ergebnisgerechtigkeit (wie etwa der sympathische Herr Straubhaar) nicht von “Ungerechtigkeit” sprechen, von organisierter und systembedingter Ungerechtigkeit? Ergebnisungerechtigkeit, meine Damen und Herren, bei der es im Übrigen egal ist, wie die Chancen verteilt sind. Dass die obendrein ungleich sind, sei hier geschenkt.

Die ganze Ideologie ist ungerecht, brutal und dient dem Klassenkampf. Die Idee der Gleichheit muss vollständig zersetzt werden. Gleichheit ist ungerecht, Ungleichheit ist gerecht, das ist die Botschaft. Sie ist absurd und paradox obendrein, denn am Ende beruft sie sich auf die bürgerlichen Ursprünge. Dort hieß es aber “Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit”. Daraus wurden Zwang, Ungleichheit und Konkurrenz. Das beschreibt die Wirklichkeit dann wohl wesentlich treffender, darum muss es übertüncht werden.

Original Bild oben (bearbeiteter Ausschnitt): Immanuel Giel (by Wikimedia Commons), CC BY 3.0

 
lf

Sie saßen noch spät beisammen und beschwiegen ihr Elend. Der Schusterjunge, der immer übrig blieb. Wenn alle schon fertig waren, zog er nach. Immer. Er kam nie mit den anderen gemeinsam an. Ihm wäre es nicht wichtig gewesen, vielmehr: für ihn fühlte es sich sogar richtig an, aber es sollte nicht so sein. Sie meinten, das sei keine Leistung, und es passe sowieso nicht ins Verlagsprogramm. Er war eine Fehlprogrammierung, ein Rest, der nicht sein durfte, das Zuviel am unteren Ende. Er wollte nirgends sonst sein, aber sie wollten ihn dort nicht. Nach oben habe er zu streben, wie die anderen. Die anderen, die er nie würde einholen können, denn er war nicht wie sie. Er war anders und durfte es nicht sein.

Dem Zweiten ging es nicht besser. Seine Herkunft haftete ihm an wie ein Schild. Er war von der Art, die es immer besser machen wollten, die immer als erste da waren, immer eifrig voran, wie sie es von denen verlangen, die etwas aus sich machen sollen. Aber es half nicht, im Gegenteil: Es machte ihn verdächtig. Er war der, der immer die Gelegenheit hätte. Als erster am Tatort, sozusagen. Etwas Schuldiges haftete ihm an, als habe er etwas gutzumachen. Man sah es ihm an, dass etwas nicht stimmte. Wo immer er auch auftauchte, wie immer als Erster, musste er warten und es wurde ihm jemand vorgezogen. Wann immer man ihn fragte, woher er käme, schwieg er. Sie mussten nicht wissen, dass er ein Hurenkind war. Sie behandelten ihn ohnehin schon so und hätten sich nur bestätigt gefühlt.

Sie wollten nicht weg. Nicht, weil sie eine Art Heimat gehabt hätten, ein Wort, das nur von denen gern im Mund geführt wird, die im nächsten Satz „Privatgrund“ giften und deutlich machen, wer dort nichts zu suchen hätte. Sie gehörten ja nicht dazu, was sollte da „Heimat“ sein? Hätten sie glauben dürfen, es sei woanders besser, sie wären vielleicht fortgegangen. Aber für sie? Sie waren diejenigen, die überall zu wenig waren oder zu viel, zu früh oder zu spät, jedenfalls nicht genügend. Sich damit abzufinden, fiel ihnen nicht schwer. So groß war das Elend eben doch noch nicht, dass es zur Flucht gereicht hätte.

Der Dritte aber war soweit, und das änderte alles. Die beiden wurden mitgerissen, als die Entscheidung unausgesprochen fiel. Es fehlte an fast allem. Nichts zu sagen, das noch jemand hätte hören wollen. Nichts schien mehr relevant, nichts zu ändern, also nichts zu tun. Niemand war mehr von etwas überzeugt in der Gegend, und was es an Vergnügungen gab, war billig, falsch und deprimierend. Keine Muße nirgends, nicht in diesem Teil der Wirklichkeit. Er wollte dennoch nicht schweigen. Die Blätter durften nicht weiß bleiben, das war seine Existenz. Er trank das Bier aus, nahm die beiden bei der Hand und stand auf. Der Säzzer verließ das Land und floh in die Literatur.

Dank an pantoufle und Matthias Eberling für die Inspiration