
Sie saßen noch spät beisammen und beschwiegen ihr Elend. Der Schusterjunge, der immer übrig blieb. Wenn alle schon fertig waren, zog er nach. Immer. Er kam nie mit den anderen gemeinsam an. Ihm wäre es nicht wichtig gewesen, vielmehr: für ihn fühlte es sich sogar richtig an, aber es sollte nicht so sein. Sie meinten, das sei keine Leistung, und es passe sowieso nicht ins Verlagsprogramm. Er war eine Fehlprogrammierung, ein Rest, der nicht sein durfte, das Zuviel am unteren Ende. Er wollte nirgends sonst sein, aber sie wollten ihn dort nicht. Nach oben habe er zu streben, wie die anderen. Die anderen, die er nie würde einholen können, denn er war nicht wie sie. Er war anders und durfte es nicht sein.
Dem Zweiten ging es nicht besser. Seine Herkunft haftete ihm an wie ein Schild. Er war von der Art, die es immer besser machen wollten, die immer als erste da waren, immer eifrig voran, wie sie es von denen verlangen, die etwas aus sich machen sollen. Aber es half nicht, im Gegenteil: Es machte ihn verdächtig. Er war der, der immer die Gelegenheit hätte. Als erster am Tatort, sozusagen. Etwas Schuldiges haftete ihm an, als habe er etwas gutzumachen. Man sah es ihm an, dass etwas nicht stimmte. Wo immer er auch auftauchte, wie immer als Erster, musste er warten und es wurde ihm jemand vorgezogen. Wann immer man ihn fragte, woher er käme, schwieg er. Sie mussten nicht wissen, dass er ein Hurenkind war. Sie behandelten ihn ohnehin schon so und hätten sich nur bestätigt gefühlt.
Sie wollten nicht weg. Nicht, weil sie eine Art Heimat gehabt hätten, ein Wort, das nur von denen gern im Mund geführt wird, die im nächsten Satz „Privatgrund“ giften und deutlich machen, wer dort nichts zu suchen hätte. Sie gehörten ja nicht dazu, was sollte da „Heimat“ sein? Hätten sie glauben dürfen, es sei woanders besser, sie wären vielleicht fortgegangen. Aber für sie? Sie waren diejenigen, die überall zu wenig waren oder zu viel, zu früh oder zu spät, jedenfalls nicht genügend. Sich damit abzufinden, fiel ihnen nicht schwer. So groß war das Elend eben doch noch nicht, dass es zur Flucht gereicht hätte.
Der Dritte aber war soweit, und das änderte alles. Die beiden wurden mitgerissen, als die Entscheidung unausgesprochen fiel. Es fehlte an fast allem. Nichts zu sagen, das noch jemand hätte hören wollen. Nichts schien mehr relevant, nichts zu ändern, also nichts zu tun. Niemand war mehr von etwas überzeugt in der Gegend, und was es an Vergnügungen gab, war billig, falsch und deprimierend. Keine Muße nirgends, nicht in diesem Teil der Wirklichkeit. Er wollte dennoch nicht schweigen. Die Blätter durften nicht weiß bleiben, das war seine Existenz. Er trank das Bier aus, nahm die beiden bei der Hand und stand auf. Der Säzzer verließ das Land und floh in die Literatur.
Dank an pantoufle und Matthias Eberling für die Inspiration

September 1st, 2015 at 22:54
Pffh, Carry On.
September 1st, 2015 at 23:15
Jadoch, aber ich werde immer wieder mal fliehen, also friss das! ;-)
September 1st, 2015 at 23:22
Mach’ dein Ding! Unbedingt. Ich habe nie etwas anderes gesagt.
September 2nd, 2015 at 00:32
Ein bißchen abwechslung, sehr schön – sehr schön geschrieben, mit feynem ende.
Kunstlyrikklamauk, flucht in die literatur, lyrik vielleicht, du könntest dann glatt vom block- zum flattersatz übergehen. ;-)
Apropos hurenkind – wenn da mal nicht die sprachpolizei vorbeischaut.
Hold On
September 2nd, 2015 at 01:21
Rauhsatz könnte wahrlich nicht schaden. Ob damit die einsamen letzten Wörter der ersten beiden Absätze vermieden würden, weiss ich nicht, aber man könnte es ja mal versuchen … vielleicht auch mit einem beherzten &nbrsp; davor.
September 2nd, 2015 at 14:18
DESWEGEN!!!
;)
September 2nd, 2015 at 17:17
@Moss: Klug, das “r” einzufügen, dann ist es zwar falsch, aber lesbar. Die Darstellung ist System- und Displayabhängig, hier sieht es (eher zufällig) perfekt aus.
September 2nd, 2015 at 18:36
… ich werf mal wieder was zum Debattieren auf den Markt.
“Wider die Online-Pfaffen” oder
„Ein Schusterjunge muss unten im Keller arbeiten …
Oo๏̯͡๏ oops!
Das neue SPIEGELFECHTER.COM.IX.wordpress ist da!
…. und mein Hurenkind steht da oben verloren auf der Straße.“
Damit keiner hinterher behaupten kann, es gäbe nichts mehr zum Lachen in der Linken!
Mitzerl vom Gesindel
September 2nd, 2015 at 19:12
Schöner Text, Herr Fluchthelfer. Und feyne Blümchen.
September 2nd, 2015 at 19:15
Die nehm ich, danke! ;-)
September 2nd, 2015 at 19:58
Der neue Begriff “Witwe” anstatt Hurenkind dürfte auch nicht den umfänglichen Geschmack der Damen treffen. Nur gut, dass Du die Punzen nicht erwähnt hast. ;-)
September 3rd, 2015 at 06:42
“Sie saßen noch spät beisammen und beschwiegen ihr Elend.”
Ein Text, der so anfängt, kann einfach nur lesenswert sein.
Da steckt so viel drin. Ich danke dafür.
September 3rd, 2015 at 08:52
Da kann er nach so vielen Jahren immer noch überraschen. Einfach mal inspiriert von zwei inspirierenden Nischenbloggern aus der Hüfte ein zartes Filetstück Literatur in die Landschaft geworfen. Danke. Gern gelesen. Dass es für Getextetes abseits dessen was die Kundschaft vom freischaffenden Dienstleister erwartet vergleichsweise wenig Feedback gibt, ist wohl das Los jeden Bloggers.
September 3rd, 2015 at 11:01
Moin Leute … wer mal kurz Zeit zwischen Kotz-Attacken hat kann sich den noch reinziehen http://is.gd/DKF3z2
Noch nicht mal dreister Lügen müssen sie inzwischen.. sie können es offen dem Pfostenmichel ins Gesicht rotzen.
September 3rd, 2015 at 11:56
Hudelhudel,guten Weg.
September 3rd, 2015 at 12:52
@Lazarus: Also das deckt sich nun garnich mit den
BefürchtungenAnsichten meiner ‘lieben’ Kollegen, die davon ausgehen, daß sie demnächst entlassen und durch Flüchtlinge ersetzt werden, die dann – dafür werden unsere “Gutmenschen” schon sorgen! – eben nicht für “Appel & Ei”, sondern mindestens 50% mehr Euronen (wenn nicht gar das Doppelte!!) malochen ‘dürfen’! No shit.(Unfaßbarerweise kam kein gigantischer Fuß darnieder, die Hohlbratzen zu zerquetschen.)
September 3rd, 2015 at 16:18
@ kiezneurotiker:
Danke.
September 3rd, 2015 at 17:03
Auf Seelenspiegel antwortet es sich nicht so schnell, vor allem dann nicht, wenn o.g. Fluchtpunkt an den eigenen Fähigkeiten scheitert…
Ich stand auf und war dann mal still.
Danke @flatter.
September 3rd, 2015 at 18:40
(Hat sie mich jetzt “Hurensohn” genannt?)
Nicht dafür!
September 3rd, 2015 at 21:42
Ich habe da auch das undumpfe Gefühl, dass Literatur einer Gesellschaft weit voraus sein kann. Aber sowas von.
Und es ist ein schöner Anfang.
September 3rd, 2015 at 21:47
@Peinhart: “Aber sowas von.”
Ich habe mal (für mich) vor ~20 Jahren geschätzt, dass es gut und gerne 150 Jahre sein können. Zumindest war das für mich die Zeitspanne, in die ich mich nach Ausbildung und Studium zurückgesetzt fühlte, nachdem mich der “Ernst des Lebens” einholte.
Wenn ich mich richtig erinnere, dann gibt es Stimmen, die den Universitäten etwa 50 Jahre Vorsprung einräumen. Das kann ich aber gerade nicht belegen.
September 4th, 2015 at 02:27
völlig OT:
Hi flatter,
is Dir das Problem, dass für Deinen Kommentar-Feed nicht das korrekte “Last-Modified”-Datum gesetzt wird, bekannt? Wenn ich das z.B. mit dem Befehl “HEAD http://feynsinn.org/?feed=comments-rss2” überprüfe, erhalte ich “Last-Modified: Tue, 01 Sep 2015 20:31:00 GMT”, obwohl in den letzten Tagen ja einige Kommentare reingekommen sind.
Wahrscheinlich die meisten Feed-Reader verlassen sich auf dieses “Last-Modified”-Datum und rufen den Inhalt des Feeds nur aufgrund neueren Datums ab, um Traffic zu sparen.
Deshalb werden die neueren Kommentare dann nicht im Feed-Reader angezeigt.
September 4th, 2015 at 09:42
Danke für den Hinweis. Das “last modified” bezieht sichauf den Post, das ist der Zeitpunkt der letzten Korektur. Die ommentare werden im feed aktualisisert. Ob sich das auf Feedreader auswirkt, weiß ich nicht.
September 5th, 2015 at 13:58
Sie saßen noch spät beisammen und beschwiegen ihr Elend.
... oder das Schweigen der flatters im Klein-Bloggersdorfer Wäldchen ist nicht zu überhören.September 6th, 2015 at 00:41
@flatter(23):
Das “last modified” bezieht sichauf den Post, das ist der Zeitpunkt der
letzten Korektur.
Und im Kommentar-Feed sollte sich dieses Datum auf den letzten Kommentar, bzw. auf die letzte Korrektur eines Kommentars beziehen.
Um das noch mal ausführlicher zu erläutern:
Wenn man den Feed einem Feed-Reader hinzufügt, ruft der Reader ganz am Anfang den kompletten Inhalt des Feeds ab, und speichert sich diesen zusammen mit dem Datum der letzten Modifikation des Inhalts des Feeds.
Danach fragt der Reader in regelmäßigen Zeitabständen beim Server an, ob sich der Inhalt des Feeds seit dem gespeicherten Datum geändert hat, und nur wenn das der Fall ist, soll der Server ihm den kompletten (neuen) Inhalt des Feeds schicken. Und hier antwortet Dein Server leider fälschlicherweise (auch wenn neue Kommentare vorliegen), dass der Inhalt des Kommentar-Feeds nicht modifiziert wurde (weil Dein Server das Datum der letzten Artikel-Modifikation und nicht das der letzten Kommentar-Modifikation verwendet).
September 6th, 2015 at 12:34
Yo, das macht WP aber automatisch. Ich bin kein PHP-Profi und habe daher nicht die Mittel, das zu ändern. Der Kommentarteil in der Sidebar wiederum aktualisisert die Kommentare, also muss da was gehen.
edith: So wie ich den Quelltext verstehe, ist “lastBuildDate” der relevante Prameter, und der wird korrekt ausgeliefert.