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Original: Seedfeeder, CC-Lizenz

Ich war irre. Sie hatte mir fast alles gezeigt und am Ende die kalte Schulter. Alles in mir pochte, der Schlaganfall hätte mich längst ausschalten müssen, das Blut würde jeden Augenblick in Fontänen aus meinen Schläfen spritzen. Dieser Druck! Ich war hart wie Bongossiholz. Ich wollte nur noch in sie hinein, mit der Ramme durch die Tür, sie aufspießen, pfählen auf der Mordwaffe, die sie selbst geschmiedet hatte, aber sie hatte mich hinaus komplimentiert. Tür zu. Adieu, kleiner Mann, du heute nicht!

Es gibt da so einen Trend gegen den Gender-Mainstream, der nicht merkt, dass er ein Nischendasein führt, dass die Mitglieder der Sekte in ihren Twitter-Kirchen und Facebook-Gebetsmühlen so relevant sind wie Jehovas Zeugen im Sperrbezirk. Heute begegneten mir zwei Artikel, die unbedingt hinweg gegendert gehören, dachte ich so bei mir. Der andere alte Sack und seine primitive Weltsicht hier und die unfassbar erniedrigende Darstellung bei der Wikipedia. Pfui, pfui und dreimal pfui!

So gefährdet der alte weiße Mann Tugend und Jugend. Wir werden verderbt und verlassen Gottes Weg. Für die Protestanten bedeutet das Ungnade, die in Armut mündet, für die Katholiken Hölle oder wenigstens rundenweise Fegefeuer, für die Kirche des Heiligen Genderama ist das Armageddon gekommen.

Das letzte Gefecht

Der neue Biedermeier mag es wieder tugendhaft; pünktlich, fleißig, diszipliniert, und weil das nicht genügt, muss die Sittenpolizei noch einen draufsetzen das noch steigern, indem sie alles Sexuelle in einen moralischen Setzkasten sperrt. Dabei werden angebliche oder tatsächliche ‘Orientierungen’ zu Wertmarken. Was das Bürgertum einst als pervers stigmatisierte, hat automatisch einen hohen Rang. Dieser bemisst sich nach dem potentiellen Opferstatus unter der Täterschaft des weißen Mannes.

Wie das genau geht, wissen die Genderisten auch nicht, weswegen sie sich jeder kommunizierenden Sprache entledigt haben. Derart sind sie imstande, ihre Mantren zu beten ohne jemals Sinn, Bedeutung oder ähnlich Gottloses in die Welt zu setzen. Sexuelle ‘Orientierungen’ sind schon die Abstraktion von dem, was die Askese eben verbietet: Sex; ficken, schnackseln, vögeln, halt das lustvolle Treiben bei vollem Körpereinsatz. Der heterosexuelle Mann definiert sich durch seine Absicht, eine Frau zu penetrieren. Schuldig! Woher kennen wir das bloß?

Die zehn Gebote des Christentums beinhalten drei, die sich auf die Religion selbst beziehen und eines, das dieses Weltverhältnis quasi verlängert, nämlich das, Vater und Mutter zu ehren. Von den übrigen sechs sind zwei auf Eigentum bezogen und zwei auf das Verhältnis Mann-Frau. Es ist verboten zu stehlen oder des Nächsten Haus auch nur zu begehren. Es ist verboten zu ehebrechen oder des Nächsten Weib zu begehren. Letzteres ist die Sünde, auf die kein Bewusstsein einen Einfluss hat, das originäre Gedankenverbrechen.

Du sollst nicht

Es ist das Manifest der Herrschaft des ‘Weißen Mannes’, das die Frau zunächst zum Objekt macht und dann den Mann auf die Knie zwingt, weil er mit dem spontanen Blick auf den heißen Arsch des ‘nächsten’ Objektes nicht schnell genug die Phantasie abgeschaltet bekommt. In der Nachbarschaft von Diebstahl und Mord ist dies eine Sünde unter gleichen. Schuldig!

Davon hatte sich eine Generation für einen Wimpernschlag befreit, die einzige Leistung der “68er”, die ihre Protagonisten nicht selbst in den Staub ihrer ideologischen Umschulung getreten haben. Es begab sich gar so, dass der alles zersetzende Kapitalismus zwar auch den Sex der Verwertung zuführt, dabei aber das Gedankenverbrechen endgültig befreit hat. Niemand entkommt der Macht des Porno, gepriesen sei der Herr!

Jetzt machen sich also verschrobene kleine Tugendsekten auf den Weg und versuchen erneut, den Menschen ihre Körper und ihre Lust zu nehmen, die Welt einzuteilen in Männlich, Weiblich, Weiß, Schwarz, anders, Homo und Hetero, Sodom und Gomorrha. Es sei keine Lust unschuldig und die der Mehrheit schuldiger als die der Minderheit. Es sei das Opfer gut und der Lüstling böse. Das also ist die Strategie, um die Herrschaft des weißen Mannes zu durchbrechen. Es werde Prüderie mit Prüderie und Rassismus mit Rassismus vergolten!

Ich gestehe. Ich bin ein reaktionärer alter weißer Mann.

 
gar

Sozialdemokraten können einen in den Wahnsinn treiben mit ihrem Glauben an einen ‘Willen’, ihre Konzepte unter dem Banner “Man müsste nur …”, ihrer Ignoranz gegen Mächte und Zwänge, die eben alles das verhindern, was in ihrem Kosmos der gute Wille will und vernünftigerweise getan werden müsste. Wir hatten das immer wieder hier, sei es als Kritik gegen die Flying Flassbecks oder gar Heinz-Josef Bontrup, der es besser weiß und dennoch Lösungen vorschlägt, denen entscheidende Interessen und Prinzipien entgegenstehen.

Ich will hier heute aber einmal auf die andere Seite der Sache eingehen, nämlich auf jenen Willen, die Sphäre der Eigenschaften von Menschen, das vorgeblich Gute® oder auch nur Vernünftige, das zu aktivieren wäre, um die Welt zu retten. Es sei sogar so weit eingeschränkt, dass die Frage ausgeklammert wird, ob das selbst im besten Fall zu relevanten Veränderungen führen kann. Dann bleibt immer noch die Frage, wie sich so etwas wie Charakter überhaupt bildet.

Keine Wahl

Ich will diese Frage bei aller Verzweiflung über die ungünstigen Bedingungen gar nicht abwerten, im Gegenteil: Es ist nämlich gar keine gute Idee, dies der Bertelsmann-Stiftung (vulgo: den Schulen) oder den Esos zu überlassen. Was aber kann man tun, um die permanente Überforderung eines respektablen Charakters gegen die Reize einer asozialen Restpersönlichkeit in glänzender Hülle schmackhaft zu machen?

Ein bisschen konkreter: Ich bin Vater zweier Töchter und habe versucht, ihnen zu erzählen, was so ungefähr richtig und falsch ist, gut und gar nicht gut, wahr und falsch. Ich habe sogar versucht, ihnen das halbwegs passabel vorzuleben. Ich fürchte aber, das war gänzlich verschwendet, denn egal, was unsere Generation noch an Illusionen und Idealen, Korruption und Egoismus tradiert hat, es lässt der nächsten keine andere Wahl. Sie können es mit Charakter versuchen und schon früh die Früchte der Depression ernten oder mit Karriere und eben später davon kosten.

Persönlichkeit? Wat dat denn?

Verständlich, dass Sozialdemokraten aller Fraktionen immer noch nach dem Willy schreien, dass sie große Persönlichkeiten suchen, denen sie große Eigenschaften andichten können, auf dass wir ihnen nacheifern. Was wir haben, ist Merkel. Es sind Gabriel, Özdemir, Gauck. Anne Will. Jauch. Dagi Bee und Doggy Dog Kitty Cat. Was wir haben, ist die Entscheidung zwischen Pest und Cholera, Krebs und Aids, in den Geschmacksrichtungen Erdbeere, Vanille, Traumschaum-Motoröl und Leckerlecker-DDT.

Vereinzelt, berieselt, bespaßelt und verhätschelt, belogen und auf stählerne Ellbogen trainiert, kennen schon zwei Generationen keinen Zweck mehr, zu dem man einen Ballast wie Ehrlichkeit, Treue, Zuverlässigkeit oder Zivilcourage bräuchte. Dafür kennen sie für jede Eigenschaft, die es vorzutäuschen oder anzuheucheln gilt, tausend schauspielerische Tricks. Wo ist da Raum für eine ‘Individualität’, die nicht industriell produziert wäre, für ‘Charakter’ und am Ende ‘guten Willen’? Die böse Zunge kann sich hier schließlich doch nicht ganz beherrschen und fragt, in welchem Verhältnis der Wille zum Besseren also zum Zwang der Verwertung steht.

 
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Der Kollege vom Biokiez hat einen inspirierenden Artikel über Europa geschrieben, dem ich meinen Senf hinzufügen will. Ehe ich auf etwas komme, was ich mir ggf. unter “Europa” vorstelle, werde ich von einer Begegnung in Griechenland vor vielen Jahren berichten:

Ich war Anfang 20 und mit ein paar Leuten irgendwo auf dem Peloponnes unterwegs. Wir sind getrampt und wollten von einer Straße zum Strand hinunter, dazwischen aber lag die Mutter aller Barrieren: Ein Privatgrundstück, mit Haus, und zwar offenbar bewohnt. Wir haben also versucht, möglichst ungesehen um das Haus herum zu schleichen und uns zu trollen. Der Besitzer hat uns aber sofort erwischt und getan, was ein Grieche damals tat, wenn jemand unbefugt sein Grundstück betrat, zumal wenn die Eindringlinge ziemlich abgerissen aussehen: Er lud uns zum Essen ein. Der Mann konnte gut deutsch, weil er lange an der Ruhr gearbeitet hatte, was ihm unter anderem sein Häuschen finanziert hatte. Es gab einen wunderbaren Gemüseeintopf, kaltes Bier und Geschichten aus unserer gemeinsamen Heimat.

Gepflogenheiten

Noch eine andere Anekdote, eine, die nicht ganz so schwelgerische Erinnerungen weckt: Einige Jahre zuvor war ich in England gewesen. Ich ging damals einmal auf einen kleinen Supermarkt zu und sah schon aus ca. 100 Metern Entfernung eine Frau, die die Tür zum Laden aufhielt. Ich konnte das nicht einordnen, war aber recht verwundert, dass sie die ganze Zeit dort stand. Als ich den Laden betrat, sie mich grüßte und die Tür schloss, wurde mir klar, dass sie mir, einem langhaarigen Schnösel, die Tür aufgehalten hatte. Sie war übrigens keine Angestellte, sondern eine Kundin. Britische Höflichkeit scheint manchmal keine Grenzen zu kennen. Wir hatten damals einen dabei, der es nicht drauf hatte mit “please” und “thank you”, und jedesmal, wenn er ein Pint bestellte und mal wieder den Satz nicht voll kriegte, halfen wir mit einem dreistimmigen “Please!” aus. Kann ich nur empfehlen, danach waren wir gern gesehene Gäste.

Ich musste sowohl in England als auch in Griechenland Geld umtauschen, was keine Riesenkunst ist und eben seine Vor- und Nachteile für Reisende hat. Der Vorteil lag im Fall Griechenlands im billigen Urlaub. Ich fuhr aber nicht herum, um möglichst billig möglichst hohe Ansprüche zu stellen. Ich wollte Land sehen und mit Leuten reden. Die meisten Europäer, so konnte ich schnell feststellen, waren freundlicher als die meisten Deutschen. Carabinieri waren mindestens so miese Arschlöcher wie unkontrollierte Bullen anderswo. Geschäftemacher sind überall eklig. Wenn man erst mal mit Leuten einen trinkt, verträgt man sich mit den meisten und versteht sich mit vielen, und das bereichert ein Leben ungemein. Das ist meine Welt, das ist mein Europa, und was ich an ihm liebenswert fand, war, dass es nicht so deutsch ist. Nicht akkurat, nicht rechnend, nicht deklassierend, nicht diskriminierend. So habe ich es erlebt.

Der Herrenmensch spricht

Und was haben wir heute? Super, ich muss kein Geld mehr umtauschen. Umtausch ist kein Thema mehr, dafür ansonsten nur noch Geld. Der Ton ist nicht zufällig der vom deutschen Kasernenhof, autoritär und herablassend. Es wird akkurat gezählt, aufgerechnet, bilanziert und präsentiert. Es herrscht der Zwang der stummen Askese. Dieselbe Akkuratesse, die politische Gerichtsvollzieher bei der Auflistung ihrer Forderungen walten lassen, dieselbe Gnadenlosigkeit beim Vollzug, kennen wir noch von damals. Unsere Pflicht, eure Pflicht, da kann man nichts machen, das ist der Befehl, der muss vollstreckt werden. Hätten sie halt rechtzeitig ihre Hausaufgaben® machen müssen. So deutsch ist Europa.

Es ist auch so deutsch, dass es wieder Feinde gibt. Ich meine hier einmal nicht den Spuk des Terroristen, sondern den in Europa. Den Russen und alle, die ihm zur Seite stehen. Mit dem darf man nicht reden, den darf man nicht verstehen, und wer es doch tut, ist kein Europäer, sondern ein Versteher. Ein Verräter. Aber das ist das Europa des Kapitals und seiner Hetzer. Sie haben sicher ihre Mittel, vielen Menschen die Köpfe zu verdrehen und ihre Parolen nachzuäffen. Stellt denen aber mal einen Griechen vor oder einen Russen, stellt was zu essen und zu trinken auf den Tisch, dann hat sich das ganz schnell. Nichts in Europa ist so, wie es seine Herrenmenschen trommeln lassen. Es ist an der Zeit, sich das wieder zu erzählen.

 
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Es gibt keine Idee, die zu dämlich wäre, um nicht von irgendwem ernsthaft vertreten zu werden. Tatsächlich muss eine “Genderdiskriminierung” herhalten für die Abschaffung von Damen- und Herrentoiletten, denn sie seien ja diskriminierend. Dahinter steckt freilich das Gegenteil: Eigentlich ist alles “diskriminierend”, was historisch gewachsen ist, denn es entspricht nicht der korrekten, aktuellen und durch Genderexperten_innxe geprüften Differenzierung. Die Toilette 3.0. sortiert nämlich nach sexuellem Produkt. Gleichsam der Mülltrennung, so der Diskurs gewordene Witz, soll es dem Gendermaterial möglich sein, unter seinesgleichen der Wiederverwertung zu frönen.

Kinder höherer Lesekompetenz mögen befürchten, es gehe hier nun auch los mit dem Abarbeiten am Popanz, dem Boulevard der Aufmerksamkeit und seiner Ökonomie. Andere werden stöhnen, das sei nun wirklich nur ein Scherz gewesen, und wer das ernst nehme, sei selbst der Depp. Ja hätte ich denn nicht selbst neulich noch betont: “Ich habe noch nie verstanden, warum sich gesetzte Leute ständig am Popanz abarbeiten müssen” und “wer sich an den Deppen reibt, ist [...] selber einer“? Wohl beobachtet!

Es geht mir daher auch weder um das konkrete Beispiel noch um dessen Urheber. Es geht um die Folgen einer Art zu denken und zu handeln, und die Gendertoilette ist das Fanal einer stillen Koalition der Reaktionäre und Fanatiker, die von beiden Flanken den Granatenhagel besorgen, das “Divide et Impera” in neue Dimensionen der Isolation vortreiben. Sie reißen noch das Individuum in winzige Stücke, so dass es am Ende keines Subjekts mehr bedarf, dass sich der Bürgerlichen Herrschaft unterwirft. Es bleibt nur mehr ein Haufen loser Teile, die jeder über den Flur kicken kann, dem gerade danach ist.

Unverzeihliche Sünden

Die örtliche Trennung der Menschen in Geschlechter zum Zwecke des Betretens von Abortkabinen ist völlig sinn- und zwecklos und repräsentiert bloß die Paranoia sogenannter “Konservativer” vor sexuellem Kontakt. Das ist noch das klassische Subjekt, das sich selbst unterwirft, dem vor jeglicher Regung der Hormone so bange ist wie vor den Objekten möglicher Erregung. Allein die Vorstellung, hinter dem Sperrholz entblößten sich die tabuierten Zonen, birgt ungeahnte Gefahr. Das bedarf zusätzlicher Absperrung, Ausgrenzung, Schlösser und Riegel.

Die Frage, wie man mit Homosexuellen verfährt, deren Existenz das ganze Konzept erschüttert, war lange die Domäne der eifrigsten Fanatiker des Konservatismus, deren Lösungsvorschläge sich entsprechend mittelalterlich gestalten. Jetzt kommt Schützenhilfe aus einem Lager, das wie die Kavallerie durch den Kindergeburtstag prescht. Herrlich, wie das spaltet!

Die lustvolle Variante homosexueller Offenheit als Kontrapunkt zum traditionellen Muff wird jetzt zerfräst von einem Gender-Rigorismus, der sonst verkniffene Protestanten auszeichnet. Die müssen ja immer wie die Schießhunde auf sich und andere aufpassen, weil sie in ihrer Wahnvorstellung von Welt eine einmal begangene Sünde nie wieder loswerden. Der Katholik kann wenigstens beichten, wenn er sich verfickt hat und saufen, bis der Erzengel singt, was noch allemal zur Entschuldigung getaugt hat.

Wir kriegen sie alle

Die protestantische Ethik hat uns hingegen nicht nur den Kapitalismus, Gauck und Göring-Eckardt beschert, sondern eben diese Überkorrektheit, die geradezu wütende Sucht nach Regeln, Kategorien und Kontrolle. Die pietistische Kultur ist ein Clusterfuck, der nie genug regeln kann, zu jeder Differenzierung noch eine weitere findet, auf dass sich bloß nichts der Ordnung entziehe! Und da sind wir dann, in einem Labyrinth von Containern, wo sich jeder zu offenbaren hat, was er nicht ist, was sie gar nicht ist, zu wem oder was man auf keinen Fall gehört. Weil sich das aber nicht realisieren lässt, wird halt mit der denkbar falschesten Argumentation etwas gefordert, das ein Symptom aufhebt und die Ursache zementiert.

Ginge es nach den Kämpfern gegen falsche Diskriminierung, fände am Ende des Ganges jede Unterkategorie eine Kabine, in der man sich so korrekt und eben so einsam es geht entleeren darf. Totale Isolation, geboren aus der Kriegserklärung gegen jede Lust, befruchtet durch Herrschaft als Selbstzweck, jetzt ganz neu unterm Banner der Emanzipation. Anstatt sich die Freiheit zu nehmen, das WC der Wahl aufzusuchen, anstatt zu hinterfragen, wieso es eigentlich getrennte Klos gibt, begegnen sie einer blödsinnigen Vorschrift, die keiner hinterfragt, mit der Vorschrift, die Vorschrift aufzuheben, ohne die Betroffenen zu fragen, was sie davon halten.

Die Experten für soziale Prägung gehen über die soziale Prägung der Opfer ihres Besserwissens ebenso permanent hinweg wie über das Problem der Prägug selbst, die ihnen nicht in den Kram passt. Alles eben falsche Gewohnheiten falscher Menschen, auf die nimmt man keine Rücksicht. Ihnen reicht die Attitüde der moralischen Überlegenheit, während ihre windschiefen Argumente so überzeugend sind wie das Messer bei der Schießerei. Selbst wenn sie einmal versehentlich etwas richtig machen wollen, ist es doch nur die Offenbarung einer Ideologie, die sich “emanzipatorisch” nennt und tatsächlich in jedem Sinne zwanghaft ist.

 
bunt

Dafür kann ich so wenig wie die, die es sind. Ich bin tatsächlich ein Kind aus der Unterschicht. Mein Großvater war einfacher Arbeiter und mein Vater hat als Chemiearbeiter angefangen. Während er sich durch Fleiß und Fortbildung zum gut bezahlten Mitarbeiter in Gefilde hochgearbeitet hat, die sonst nur Akademiker erreichen, habe ich durch die Möglichkeiten der sozialliberalen Ära studiert und promoviert. Mittelschicht sind wir aber trotzdem nicht.

In meinem Fall liegt das daran, dass ich die meiner Ausbildung angemessene Karriere verpasst habe. Tatsächlich musste ich übrigens mit Ende 20 einen Job ausschlagen, der mir eine akademische Karriere beschert hätte. Ich war damals Hausfrau und Mutter, und es kam für mich überhaupt nicht infrage, meine Kinder dafür von irgendwem betreuen zu lassen. Eine Entscheidung, über die ich gelegentlich jammere, die ich aber unter den gegebenen Umständen wieder so träfe. Natürlich liegt mir daher etwas daran, diese Umstände zu ändern.

Die Welt verändern

Die Umstände zu ändern, das heißt für alle. Dabei habe ich nicht nur diejenigen im Blick, die für sich selbst die Umstände ändern können, aber vielleicht nicht dazu kommen, also Leute wie mich. Das wäre die typische Mittelschichtsreaktion, die neoliberale Option der “Chancengerechtigkeit”. Nein, ich will nicht, dass es nur Menschen besser geht, die an der Schwelle zur Mittelschicht stehen, weil sie das Glück einer guten Ausbildung haben oder ehrgeizige Eltern, die sie gefördert haben. Ich möchte, dass ein Leben mit Würde und ohne Angst möglich ist, für alle und sogar mit Kindern. Das lenkt den Blick aufs Wesentliche. Vielleicht ist das eine Motivation, die ein gebildetes Unterschichtskind eher entwickelt als andere.

Der Alltag aber, die Konsumwelt, Kommunikation und die politische Agenda, ist hingegen ein reines Schaulaufen der Mittelschicht. Das endet bei der Verweigerung von Systemkritik und beginnt bei der politischen Korrektheit. Man schlägt nicht die Hand, die das Geld reicht, und daher stellt man auch nicht die Frage, woher es kommt und wohin es geht. Nur als “mein Geld” wird es eigentlich wahrgenommen. “Mein Geld”, das ist das psychologische Grundstück, um das der M-Bürger seinen Zaun zieht. Er hat es sich verdient – ganz allein und persönlich – und will daher auch bestimmen, was damit geschieht. Vielmehr: Weil er das nie darf und mit “seinem Geld” schreckliche Dinge getan werden (Griechen aushalten, Steuern verschwenden), muss er ständig mosern.

Er weiß, dass er da nichts machen kann, selbst seine Finanzexperten haben ihre liebe Not, das zu erklären. Sie wissen, dass sie in Gottes Hand sind, denn alles andere ist Sozialismus-Kommunismus. Also wenden sie sich den Dingen zu, die sie für praktikabler halten. Umweltschutz durch CO2-Aktien etwa, Atomausstieg durch Laufzeitverlängerung, Frauenrechte durch Genderama. Die aufstrebende Partei der Zeit sind konsequenterweise die Grünen. Sie profitieren unter anderem davon, dass die Unterschicht nicht wählt und die Systemkritiker auch nicht. Sie bilden die perfekte Mischung aus Mittelschicht und Konformismus. Sie glauben daran, dass Verbote und Regeln die Welt verbessern und konzentrieren sich auf solche, bei denen sie keinen wirksamen Widerstand erfahren.

Alles so schön bunt hier

Das macht sie zum natürlichen Verbündeten der CDU, die aus christlicher Tradition schon immer konservativ und moralin daherkommt. Der Hauptunterschied: Als katholisch geprägte Partei weiß die CDU Verbote zu relativieren, indem ihre Klientel sündigt, beichtet und wieder sündigt. Die protestantischen Grünen und ihr Umfeld hingegen belassen es nicht beim Verbot, sondern kontrollieren sich und andere – permanent. Alles muss immer richtig sein: Das Verhalten, die Sprache, der Konsum. Alles geregelt, kontrolliert und zertifiziert. Ob das Leben, das dann noch übrig bleibt, unerträglich ist oder die Hütte brennt, ist zweitrangig. Hauptsache korrekt.

Derweil trifft die Oberschicht die wirklich relevanten Verabredungen und bestimmt den Kurs; die Unterschicht hat mit all dem nichts zu tun und lässt sich höchstens zwingen. Sprachregelungen? Mülltrennung? Biosiegel? Geschlechterrollen? Inklusion? Energiewende? Das interessiert oben wie unten niemanden. Die Präsenz dieser Themen im politischen Geschäft begrüßen die einen als willkommenen systemkonformen Karneval, die anderen gehen eh nicht wählen und pfeifen drauf. Nur in der geschäftigen Trance vermeintlicher Leistungsträger, bei den Drohnen der Mittelschicht, glauben sie, ihr ‘Engagement’ hätte etwas mit der Welt zu tun, in der alle leben. Eine Minderheit, der man es überlassen hat die Fassaden anzumalen, lebt ihren Traum, indem sie ihr Leben träumt. Alles schön bunt, und alle machen mit. Dafür sorgen sie schon.

 
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Auf alten Bierdeckeln, die jahrelang bei meinen Eltern herumlagen, waren Wahlkampfsprüche gedruckt, hohe Dichtkunst unbekannter Künstler, ein Poetry-Slam im Dienste der politischen Aufklärung quasi:

1969 sagte die SPD wörtlich: Alle Konsumenten wettern, weil die Preise ständig klettern. Lebensmittel, Kleidung, Mieten scheinen sich zu überbieten. Diese und auch andre Leiden kann die SPD vermeiden. Auf den Wähler kommt es an, Ehmke, Horst ist unser Mann.

Auf der anderen Seite des Bierdeckels:

„1972 – Was die SPD versprochen, hat sie alles längst gebrochen. Lebensmittelpreise, Mieten sind kaum mehr zu überbieten. Unser Geld geht in die Brüche und die SPD macht Sprüche. Wähler hört dem nicht mehr zu! Schluss damit. Wählt CDU!“

Die gute alte Zeit

Es war noch keine Rede von „Arbeitsplätzen“, die gab es gerade noch reichlich. Die Weltwirtschaft stand kurz vor der ersten „Ölkrise“ und weltweit sinkenden Profitraten, einer Entwicklung, von der sie sich trotz technischer Umwälzungen nicht mehr erholen sollte. Schon damals machten die Parteien potentiellen Wählern vor, sie – oder jeweils die anderen – hätten unmittelbaren Einfluss auf die Wirtschaft. Interessant, dass hier noch die Preise das Thema waren. Nun, es gab damals höhere Inflationsraten, aber auch viel höhere Lohnzuwächse. Da man über höhere Löhne schlecht meckern konnte, waren halt die Preise das Thema – obwohl sich eines aus dem anderen ergibt.

Immerhin schien das ganze Theater noch wesentlich näher an den Bedürfnissen der Menschen zu sein. Während die Politik sich damals offiziell Sorgen machte, wie die Leute mit ihrem Geld zurecht kämen, wird heute die Armut von Millionen zur gerechten Strafe für Faulheit verklärt. Bemerkenswert übrigens, dass die Menschen umso fauler werden, je weniger Arbeit angeboten wird. Auch muss man notieren, dass angeblich noch nie so viele Menschen gearbeitet haben und wir dennoch sieben bis acht Millionen Hilfeempfänger haben. Es muss eine Wissenschaft geben, von der ich noch nichts weiß, sonst käme niemand auf die Idee, die Situation könnte etwas mit der Motivation von Arbeitslosen zu tun haben.

Nein, heute haben wir andere Probleme. Wir müssen uns nach der Decke strecken, weil Globalisierung uns dazu zwingt. Seit dreißig Jahren wird die Welt immer globaler, und während wir den Rest Europas in entsetzliche Arbeitslosigkeit konkurriert haben, müssen wir das, was hier keinen Job kriegt, morgens um sechs mit der Peitsche zum Rasenmähen prügeln. Es muss eine Wissenschaft geben …

Dumm wählt gut

Eine Voraussetzung für das Wirken solcher Politik, für den magischen Mummenschanz der Medien und ihrer politischen Zulieferer, ist Unwissen. Vor allem Unwissen um Geschichte. Die heute 20-Jährigen Schuhfetischisten haben 09/11 nicht bewusst erlebt. Die 30-Jährigen waren beim Mauerfall 4 Jahre alt, und was in den Siebzigern los war, wird bestenfalls in den Akademien zurechtgebogen, nach allen Regeln des Kalten Krieges.

Dass die Unterschicht erfolgreich verdummt wurde, ist ein großer Erfolg für die Innere Sicherheit. Jetzt ist die Mittelschicht reif, die eh gerade nach unten durch sinkt. Es war gut, dass immer weniger Kinder aus armen Familien studiert haben, inzwischen wurde aber sicherheitshalber ein Studiensystem eingerichtet, in dem fast niemand mehr grundsätzliche Bildung erfährt. Geschichte als Sichtweise, die Frage nach dem Werden der Dinge, das Wissen um Entwicklung, geht auf breiter Fläche verloren.

Wenn man das einmal geschafft hat, kann man den Verblödeten nämlich alles erzählen. Dass man mit Ozeanien gegen Afrika Krieg führt, also mit Afrika gegen Ozeanien zum Beispiel. Dass Putin schuld ist und Poroschenko ein lupenreiner Demokrat oder umgekehrt. Dass wir alle überwacht werden müssen, weil wir sonst an Terror sterben werden. Einem Terror, der längst dazu geführt hat, dass ganze Städte in Großbritannien von Islamisten beherrscht werden. Sprach der Terrorexperte. Bis man ihm widersprach und er sich entschuldigte, waren Millionen Weltbilder bereits weiter gefestigt.

 
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Abb.: Geschwollene Mandeln sind nicht immer entzündet.

Es gibt Bereiche, da weiß man, dass man recht hat. Es ist ärgerlich, wenn einem dann jemand mit dummen Argumenten kommt, manchmal aber noch ärgerlicher, wenn die Argumente gar nicht dumm sind, sondern deplaziert, wenn also richtige Aussagen in den falschen Zusammenhang gesetzt werden. Dann kann man die Argumentation in Bausch und Bogen ablehnen und sich schlimmstenfalls dazu versteigen, selbst Fakten als lächerlich abzuqualifizieren, weil man es eh gerade mit Idioten zu tun hat, die sich in eine kuschelige Decke aus Schwachsinn eingehüllt haben. So ungefähr gehen Impfbefürworter mit Impfgegnern um, womit sie in einem Abwasch auch die berechtigte Kritik an Impfungen und Ärzten treffen.

Gibt es überflüssige, schädliche Impfungen, an denen die Medizinindustrie verdient? Auf jeden Fall. Das Problem fängt schon da an, wo die Medizin selbstverständlich kapitalistisch organisiert ist, also aus Geld mehr Geld machen muss. Was diesem Prinzip zuwiderläuft, findet nicht statt. Diese Tatsache ist für skandalöse Zustände verantwortlich, die täglich tausende Schwerkranke das Leben kostet, weil sie sich Medikamente und Therapien nicht leisten können.

Das große Geschäft

Zurück zu den Impfungen: die FSME-Impfung gehört zum Beispiel zu denen, die so häufig schwere Nebenwirkungen zeitigt, dass sie möglicherweise mehr schadet als nützt. Die Grippeimpfung etwa ist ein Milliardengeschäft; ich bezweifle, dass sie besonders sinnvoll ist und lasse mich nicht impfen. Gerade mit der Grippe werden aber Geschäfte gemacht, die mit Vorsorge oder Heilung nichts zu tun haben. Die geschürte Panik wegen Schweine- und Vogelgrippe ist noch in bester Erinnerung.

Allein Deutschland hat das überflüssige Mittel Tamiflu für 500 Millionen Euro eingekauft, um es nachher zu verbrennen. Obendrein ist dessen Wirksamkeit äußerst zweifelhaft. Hier werden gigantische Umsätze mithilfe von Angst gemacht. Pikant und ein gefundenes Fressen für Verschwörungstheorien, wenn dann ausgerechnet Donald Rumsfeld noch davon profitiert. Ich habe das nicht geprüft, die Wirkung dieser Meldung ist aber vom Wahrheitsgehalt ohnehin nicht abhängig.

Schließlich: Die Ärzte, die ganz selbstverständlich zur Impfung raten, sind dieselben, die keine Zeit haben, nicht zuhören oder absurde Rituale in Kliniken einhalten, in denen sie das Gros ihrer Patienten verwalten. Der wissenschaftliche Geist dieser Medizinroboter ist ungefähr so wach wie der neoliberaler Betriebswirtschaftler; ich kann davon sehr schmutzige Lieder singen.

Guru Guru

Es gibt also nicht nur Anlass zum Misstrauen, es gibt vielmehr kaum Anlass, dem System zu vertrauen. Viele Menschen haben nun leider nicht das Talent, an dieser Stelle vernünftige Differenzierungen vorzunehmen und kluge Schlüsse zu ziehen. Ich fürchte gar, die meisten sind völlig darauf geeicht, Autoritäten zu glauben, und wenn sie den einen von der Fahne gehen, suchen sie sich halt neue. Es ist nicht konstruktiv, angesichts dessen selbst Partei zu werden und die eigenen Differenzierungen zu vernachlässigen.

Wer seine Kinder nicht gegen Masern impfen lässt, mag ein Idiot sein. Er mag aber auch schlicht die Orientierung verloren haben in einer Welt, die ihn und alle anderen nur noch als potentielle Käufer anspricht und die perfidesten Techniken der Lüge entwickelt hat, um Profite zu sichern. Die ‘Impfkritiker’ haben völlig recht, wenn sie in allem und jedem ein sinistres Geschäft wittern, das sollte man ihnen konzedieren.

Es gibt aber sinistre Geschäfte, die Leben retten, und die Masernimpfung gehört unzweifelhaft dazu, wenn man die Eindämmung der Krankheit seit Einführung der Impfung mit Verstand zur Kenntnis nimmt. Vielleicht ist der eine oder andere Impfgegner für diese Erkenntnis zugänglich, wenn man sie nicht pauschal behandelt als seien sie nur die Karikatur, die man sich unter solchen Idioten vorstellt.

 
Ich hatte neulich das Missvergnügen mit jemandem von einer Krankenkasse zu telefonieren in dem Ansinnen, über die Kostenbeteiligung an einer Therapie zu sprechen, die die Gesetzliche noch vor einigen Jahren voll finanziert hat. Seitdem nicht mehr, ohne auffindbare Begründung, und als ich bemerkte, da habe wohl jemand den Rotstift kreisen lassen, antwortete der Mann: „Die werden sich dabei wohl etwas gedacht haben“.

Ich erwähne das hier nicht, weil ich mich über derartige Stereotypen ärgere, die solche Bücklinge ernsthaft für Argumente halten. Ich erwähne es wegen des Phänomens dieser Zeitgenossen, die hier in den Diskussionen immer wieder herumspuken als „Blödmichels“, „Lemminge“, „Bürger Blöd“ und ähnliches.

Sein und Handeln

Es ist mir dabei einerseits völlig klar, dass Menschen, die sich beizeiten so verhalten, vermutlich in der Mehrheit sind und es sich schon allein daher verbietet, sie in Bausch und Bogen für untauglich zu erklären. Ich kann es andererseits genau so wenig durchgehen lassen, dass sich geistige Funktionsmöbel im Schutz eines vermeintlichen Common Sense immer wieder zu Richtern und Henkern aufschwingen. Das Eichmännchen ist der unterdrückte Unterdrücker, der nur seine Pflicht tut, sich stets im Einklang mit der Obrigkeit wähnt und seine Zugfahrpläne eifrig auf Pünktlichkeit trimmt, egal ob andere darunter leiden und womöglich zu Tode kommen.

Diese Mentalität beginnt nicht im Extremfall, den unser oben genannter Exekutor vielleicht gar nicht bemerkt. Es sind für ihn nur Formalitäten, während es am anderen Ende ums Überleben geht. Was soll er da selber denken? Auch Faschismus beginnt nicht in Auschwitz, wie schon öfter hier vermerkt; er endet nur dort. Widerstand seinerseits beginnt nicht im militanten Kampf gegen die grausame Diktatur, sondern ist der tägliche Widerspruch gegen Ungerechtigkeit und Erniedrigung. Mitmachen ist das Gegenteil. Was zählt, ist hier nicht der Erfolg, sondern der Beitrag.

Wie verfahre ich aber mit den Micheln, den Eichmännchen? Entschuldige ich sie, weil sie ja Mitmenschen sind und und lasse ihnen ihre kleine Macht, mit der sie ihre Mitmenschen wiederum behandeln wie Stückgut? Oder bekämpfe ich sie, weil sie der Unmenschlichkeit täglich Tür und Tor öffnen? Ich schlage an dieser Stelle vor, zunächst eine Unterscheidung zu treffen zwischen Idioten und Nützlichen Idioten. Letzteres ist ein feststehender Begriff. Er bezeichnet eben jene Mitmacher, austauschbare Söldner beliebiger Herrschaften, im Gegensatz zum Idioten – ehedem Inbegriff für den angeboren Schwachsinnigen. Es ist eigentlich ganz einfach: Sie sind nicht so, sie handeln so. Für ihre Taten muss man sie verantwortlich machen.

Eine Frage der Ethik

Aber selbst ein Mörder ist nicht nur ein Mörder. Er ist ebenso vielleicht ein Handwerker, Vater, Autofahrer. Die Tat macht ihn zwar zum Mörder, aber damit sind nicht seine Eigenschaften verändert, er hat lediglich auf eine Weise gehandelt, die ihn eben zu einem solchen macht. Nicht anders ist es mit den Micheln und Eichmännchen (übrigens auch mit Autofahrern und Vätern). Wenn sie sich verhalten wie welche, ist es auch grundsätzlich richtig, sie so zu nennen. Die Hampelmänner, die einem mit Stammtischweisheiten kommen wie der da oben, die schwadronieren: „Mach ich’s nicht, macht’s ein anderer“ oder „das haben wir schon immer so gemacht“, „da kann ja jeder kommen“, darf man für diese Haltung durchaus verachten.

Allerdings: Jeder Tag ist ein neuer Tag. Ein Tag, an dem wieder neue Entscheidungen zu treffen sind. Man kann sich dann wieder entscheiden, sich zu ducken, zu funktionieren und wegzuschauen. Es ist nicht leicht, aber es muss das Ziel sein: wissen wollen, was man tut und Entscheidungen treffen, die man auch dann akzeptieren kann, wenn man selbst davon betroffen ist. Dazu muss man weder Kant lesen noch Philosophie studieren.

 
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Eine der bizarrsten Geschichten der DDR und ihres greisen Elferrats, sprich: Politbüro, ist die vom Nutzen und Wehe des Rock’n Roll. Da taten sie sich nichts, die Nazibürger mit ihrer Abneigung gegen “Negermusik”, ihre bundesrepublikanischen Nachfolger, die den Rock’n Roll in ihrem muffigen Kleinbürgerdasein so verdammten wie ihre Eltern den Jazz, und die Spießer des DDR-Establishments, die nur eine Funktion in der westlich-dekadenten Popkultur sahen: von den Problemen des kapitalistischen Alltags abzulenken.

Bevor der Rock’n Roll aufgekauft und zu einer Veranstaltung für zynische Manager und ihre tatsächlich hirnentkernte Konsumentenjugend wurde, verschaffte sich in Musik und dem Kult darum ein anderes Bedürfnis Ausdruck. Jugend, die sich finden wollte, die nicht einfach gehorchen wollte; das Gefühl, einer definierten Gruppe anzugehören, erlebtes Kollektiv und auch quasireligiöse Gemeinschaft.

To be, to do tobedobedoo

Ein anderes Feld: Bis heute hält sich unangefochten ein Kult, der zwar wie alles andere durchkapitalisiert ist, aber nach wie vor von denselben Atavismen getragen wird wie oben Genanntes: Fußball. Es gibt da nicht nur die Weltmeister aus der Championsleague. Bis hinein in die Kreisklasse gibt es noch Fans, die am Wochenende ihre Vereine unterstützen, zusammen hocken, singen und sich im Kreis der Ihren geborgen fühlen. Wenn sie nicht gerade dem Kreis der anderen aufs Maul hauen, was die andere Variante ist.

Diese Bedürfnisse sind nicht totzukriegen, und einer der dümmsten Versuche, eine ‘sozialistische’ Vorzeigegesellschaft zu errichten, war der Zwang, der gegen eine Musikkultur ausgeübt wurde, die keineswegs niveauärmer war als das offiziell gepflegte Lipsi- und Schlagerwesen. Interessanterweise wurde der Fußball auch dort kaum angetastet; es war vielmehr so, dass es gewisse Überschneidungen gab zwischen der Angehörigkeit zu staatlichen Einrichtungen und der Anhängerschaft bestimmter Vereine.
Sehr bemerkenswert übrigens auch die Rolle der Hooligans und Ultras im Kampf gegen Ägyptens Mubarak.

Diese und andere Phänomene, die an primitive Gesellschaften erinnern, werden von Nazis reichlich bedient, worin auch eine ihrer Stärken liegt. Rummtata, Corpsgeist, Feindbild schweißen zusammen und fühlen sich gut an, wenn man doof genug ist, die Kehrseite zu ignorieren und überhaupt nicht zufällig eine Abneigung hat gegen dergleichen oder Bedenken gegen irgendetwas. Das Bedürfnis ist da, man kann das nicht durch Zwang ändern, selbst wenn man das wollte.

Das Recht der Eingeweide

Daher ist es auch wichtig, in der ewigen Frage, ob nun das Sein das Bewusstsein verstimmt oder umgekehrt, nicht zu vergessen, dass es da noch Instanzen jenseits von beidem gibt. Es wäre hier unklug, die Bedürfnisse einfach dem ‘Sein’ zuzuschlagen, um Recht zu behalten. Es gilt, den Menschen mit seiner Umwelt in einen Einklang zu bringen, und in diesem Sinne sind seine Bedürfnisse, die er aus grauer Vorzeit mit sich herumschleppt, sowohl Mensch als auch Umwelt.

Es hat Versuche gegeben, dergleichen zu entwerfen, hier ist z.B. Herbert Marcuse zu nennen und sein Begriff des ‘Eros’. Allgemein sind solche Bestrebungen in der Ästhetik zu finden und in der Kunst, aber man sollte sich verdeutlichen, dass es sich hier nicht um eine abgehobene Kultur des Schönen handelt, sondern eher um den Anspruch der Eingeweide. Ein Anspruch, der sehr berechtigt ist und den zu ignorieren nur dazu führt, dass ihn andere wahrnehmen und für sich nutzen.

Gerade linke Modelle, Versuche echter Solidarität, haben hier das Zeug zur Alternative. Wo es gelingt, sich zusammen zu raufen und der ewigen Konkurrenz eine Struktur zuverlässigen Miteinanders entgegen zu setzen, ist endlich einmal die solidarische Einstellung der Linken vorn. Tatsächlich würde dies auch ungemein gestärkt durch Arbeitsbedingungen jenseits von Konkurrenz und Ausbeutung. Dies ist ein Teil der Geschichte, die man erzählen kann. Dazu müssen einige allerdings auch ihre aggressive Abneigung gegen vermeintlich primitives Rudelverhalten ablegen. Das braucht nämlich seinen Raum und nimmt ihn sich im Zweifel ohnehin.

Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.

So oft wir hier betont haben, es sei nicht Ziel oder Mittel einer emanzipatorischen Gesellschaft, so wenig kann ich verhehlen, dass ich in diesem Bezug sehr zwiegespalten bin: Adorno, von dem das Zitat stammt, hat als Konsequenz aus dem Holocaust eine “Erziehung zur Mündigkeit” gefordert. Diese ist ausgeblieben, und der ernsthafteste Versuch, dergleichen zu veranstalten, ist in Form eines unreflektierten Laissez-faire-Versuchs der ’68er’ kläglich gescheitert.

Man muss sich dem Phänomen “Erziehung” aus unterschiedlichen Winkeln nähern. Es gibt da die der Kinder von Seiten der Eltern und Pädagogen, und es gibt eine allgemeine Einflussnahme von Menschen und Einrichtungen aufeinander, die teils sehr bewusst und manipulativ abläuft, teils in die denkbar reaktionärste Schiene gerät: Der Herdentrieb, Gruppenzwang als prägender Einfluss des Bestehenden auf die Einzelnen. Dem ist nur entgegen zu treten durch die bewusste Förderung von Selbständigkeit, dies wiederum nicht anders zu leisten als durch Erziehung.

Schön in der Reihe

Ich muss immer an diese unerfüllte Forderung Adornos denken, wenn ich mit hirntauben Bürokraten, diesen Eichmännern zu tun habe oder mich mit der Geschichte dieses Vaters der ‘Banalität des Bösen’ selbst befasse. Als ich jung und naiv war, habe ich mich jedesmal empört und mich gefragt wie es sein könne, dass nach Auschwitz immer noch die Vorschriften mehr gelten als jede Menschlichkeit und “Pflicht” noch immer blind erfüllt wird, wenn sie ersichtlich Not erzeugt.

Mit der Zeit gewöhnt man sich an diese taube Stelle, dennoch hat das Leben mich noch einmal entsetzt, als ehemalige Arbeiter und Sozialisten Hartz auf die Menschheit losließen. So weit sind wir längst schon wieder, und auf anderen Gebieten sieht es nicht besser aus mit Autonomie und Nicht-Mitmachen. Heute hetzt die Meute wieder gegen Russland, und was einmal eine Hoffnung kritischen Bewusstseins war, ist längst Speerspitze der Propaganda..

Die Strammsteher erzählen derweil ihre eigene Geschichte des Widerstands; es soll demnach nur gelten, was in der Reihe marschiert und national dünkt, nicht etwa persönliches Gewissen und Verweigerung, die Urkompetenzen der Autonomie. Die Demokraten haben kläglich versagt. Nach dem Laissez-faire Experiment kam der autoritäre Rollback. Schule und schon Kindergarten erziehen zur seelenlosen Pflichterfüllung, Industrie und Medienindustrie zu Konsum und Marktreligion, bigottem Leistungsfetisch und unreflektierter Folgsamkeit.

Nein!

Nein, Emanzipation scheitert nicht an der Erziehung der Menschen, sie scheitert daran, dass sie nicht stattfindet oder den Autoritären überlassen wird. So werden die Menschen eben nicht belehrt. Nicht über die Geschichte, nicht einmal die jüngste, und was aus ihr folgt. Nicht über Demokratie und was die mit selbstbewussten Bürgern zu tun hat. Nicht über das elementare Recht nein zu sagen und das gute Gefühl, davon Gebrauch zu machen. Stattdessen haben wir ein System über uns aufziehen lassen, das die Schikane gegen entwürdigte Befehlsempfänger “Eigenverantwortung” nennt. Darauf werden die Massen konditioniert und darauf, den Nachbarn nicht mehr als Mitmenschen zu erkennen.

Das müssen wir anders machen, ganz anders, und es ist keine Option sich darauf zu verlassen, allein andere Arbeitsbedingungen sorgten schon für freie Menschen. Nein, “nein” sagen muss jede können und jeder lernen, sonst rollt die nächste Welle von Jasagern mit einem zackigen “Jawoll” über uns. Einer, der die Befehle dazu formuliert, hat sich noch immer gefunden.

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