Ein ganz interessantes Thema reißt Epikur heute an, er nennt es “Angst und Macht”. Man könnte sicher mehrere Bücher darüber schreiben. Meine Erfahrung mit dem Schlimmsten hat mich unter anderem gelehrt, dass erstens die Ängste des Alltags plötzlich sehr klein werden und zweitens selbst der Tod eine Herausforderung ist, der man sich stellen kann. Ich schrieb den Artikel damals nach Uenas Krebsdiagnose, dem ersten in einer Reihe von Todesurteilen.
Der Angst, zumal wenn sie Gewissheit wird, aufrecht zu begegnen, ist für mich eine der wichtigsten Fähigkeiten – oder zumindest Bemühungen. Sich klein zu machen, endet in der totalen Ohnmacht. Deshalb reagiere ich auch – übrigens auch schon vor dieser Erfahrung – allergisch auf Versuche, Menschen klein zu machen oder zu halten. Dies ist auch Verbunden mit der Konstruktion von ‘Safe Spaces’. Die Illusion von Sicherheit ist kaum besser als die Forderung danach. Eine ‘sichere’ Gesellschaft ist organisierte Paranioa. Die Menschen aka Bürger werden darin infantilisiert – wie die Kinder muss man sie schützen (am Ende vor sich selbst), behüten, bewachen und bevormunden.
Kniet nieder
Der Gipfel dieser perfiden Strategie hat eine Formel: “Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.” Eine so kranke Ansage kann nur von einem Innenminister kommen, insbesondere einem deutschen. Hintergrund war die Absetzung eines Fußballspiels wegen angeblicher Terrorgefahr. Wie ein kleines Kind, das von seinen Propellereltern vor der Wirklichkeit ‘geschützt’ wird, deren Wirkung davon nicht beeinflusst wird und für die jede Begründung dem Unheimlichen weicht, spielt hier ein Minister dieses Spiel gleich mit der gesamten Bevölkerung.
Diese besteht freilich aus erwachsenen Menschen, gegenüber denen er sich zu verantworten hat. Geheimniskrämerei im Angesicht einer – wie es ja wörtlich heißt – “abstrakten Bedrohungslage” setzt die Behörden, die solchen Spuk für überwachungsstaatliche Maßnahmen benutzen, in den Stand, jegliche Kontrollen zu umgehen. So wurde bislang noch jede Diktatur aufgezogen. Der staatliche Übervater reißt die Handlungskompetenz an sich, um eine finstere Bedrohung abzuwenden. Dass de Maizière es fertigbringt, von einer drohenden Verunsicherung zu faseln, die er damit erst auslöst, ist der Dummdreistigkeit geschuldet, die fehlende Kompetenz durch Eifer kompensiert.
Dergleichen findet in der Regel deutlich subtiler statt, nicht nur ‘politisch’, sondern auf vielen Ebenen. An der Schnittstelle zum Alltag der Massen hat der Staat ein Angstregime errichtet, das mit dem Namen “Hartz” verbunden ist. So schwierig es ist, dem zu widerstehen, so notwendig ist es, denn hier sprießt der Keim der Diktatur besonders gut. Solidarität tut Not, und vielleicht ist der Tod der SPD eine Chance dazu. Es kann ja nicht nur Arschlöcher wie die von der AfD geben, die gegen die Angst eine Hasskultur entwickeln.
p.s.: Nette Comedy zur zitierten und ähnlichen Pressekonferenzen (YT, ZDF).
Februar 1st, 2020 at 08:37
Der hier bereits verlinkte Aufsatz ‘Die Geburt des Ich‘ verweist auf eine tiefere Dimension der Angst, der das ‘moderne Subjekt’ ausgesetzt ist. Angesichts einerseits einer scheinbar totalen Verfügbarkeit der Welt (nicht zuletzt durch das Machtmittel Geld) und andererseits einer als bedrohlich wahrgenommenen (und daher möglichst zu beherrschenden) Natur sowie des Konstruktes der ‘Mitmenschen’ als Konkurrenten und potentielle Feinde (die somit auch möglichst zu beherrschen wären) pendelt das ‘doppelt freie’ Individuum zwischen Gefühlen der Allmacht und Ohnmacht, Quelle der Macht und der Angst zugleich. Auch das lässt sich gut anhand der Installation ‘HartzIV’ aufzeigen: einerseits wird es immer noch breit begrüßt, sofern es den anderen als Konkurrenten niederhält – und zugleich gefürchtet, sofern es einen selbst treffen könnte.
Februar 1st, 2020 at 16:26
«Vor unseren Augen kreiert sich ein mörderisches System»
Eine konstruierte Vergewaltigung und manipulierte Beweise in Schweden, Druck von Grossbritannien, das Verfahren nicht einzustellen, befangene Richter, Inhaftierung, psychologische Folter – und bald die Auslieferung an die USA mit Aussicht auf 175 Jahre Haft, weil er Kriegsverbrechen aufdeckte: Erstmals spricht der Uno-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, über die brisanten Erkenntnisse seiner Untersuchung im Fall von Wikileaks-Gründer Julian Assange.
[..] An der Wurzel solcher Entwicklungen stehen immer Strukturen mangelnder Transparenz und unkontrollierter politischer oder wirtschaftlicher Macht, kombiniert mit der Naivität, Gleichgültigkeit und Manipulierbarkeit der Bevölkerung. Plötzlich kann das, was heute immer nur den anderen passiert – ungesühnte Folter, Vergewaltigung, Vertreibung und Ermordung – ebenso gut auch uns oder unseren Kindern passieren. Und es wird kein Hahn danach krähen. Das kann ich Ihnen versichern.
Februar 1st, 2020 at 18:13
@ R@iner
Das ist ja unglaublich. Danke für diese Aufklärung. Schon sehr interessant, wie leicht man manipuliert werden kann. Irgendwie dachte ich auch, dass ja was dran sein muss an den Vorwürfen gegen Assange.
Irgendwann bin ich auf den Fall Aaron Swartz gestoßen und wirklich vom Glauben abgefallen, was v.a. das amerikanische Rechtssystem betrifft. Wehe dem, der sich mit der Macht anlegt. Da gibt’s ja noch weitere Beispiele, die die Heuchelei und Barbarei des Systems der Macht offenlegen. Komm mir keiner mehr mit Rechtsstaat, Demokratie, Menschenrechten und geforderter Zivilcourage. Faustdicke Lügen und Manipulation im Namen der Macht, nicht mehr. Ist das nicht nur noch zum Verzweifeln?
Februar 1st, 2020 at 22:40
Nein, das ist ganz normal und war auch wahrscheinlich immer schon so. Etwas anderes zu behaupten wäre reine Geschichtsklitterei.
Und was soll deshalb an Zivilcourage schlecht sein?
Wie meine Oma (gebenedeit unter den Frauen) immer sagte, man muss das machen was man für richtig hält ganz egal was die anderen machen. Z.B. Stellung beziehen gegen Gleichgültigkeit, Zerstörung und Monokultur.
Und schon ist die Menschheit nicht mehr so völlig selbstverschuldet unmündig.
Verzweifeln, lieber nicht.
Februar 2nd, 2020 at 08:31
“Sich nicht jeden Tag den Zentner in den Nacken legen zu lassen. Jeder Tag, an dem es sich aufrecht gehen lässt, ist ein guter Tag.”
Aus: feynsinn.org/?p=949
Jawohl.
Aufrechten und wiederholten Dank für Deine Texte und Verlinkungen.
Februar 3rd, 2020 at 12:20
Passend zum letzten Absatz: In 15 einfachen Schritten zur Vernichtung
Faschismus und all seine Vorlaufstadien funktionieren über die Verwendung einer gewissen Sprache. Die wichtigste Funktion dieser Sprache ist die Markierung des Feindes und daran anschließend die Entmenschlichung des Feindes.
Februar 3rd, 2020 at 18:57
OT: Wie hässlich die Welt der Politik doch ist, wenn es konkret wird! Zum Brexit ein Artikel aus der Schweiz (via fefe), der detailreich schildert, was ich hier in der 2. Hälfte angesprochen habe.
Februar 4th, 2020 at 07:40
Und hier noch ein Ausblick darauf, was aus diesen Details ‘sozialpsychologisch’ folgen dürfte…
Februar 4th, 2020 at 08:07
Im ‘Zeitalter des Individualismus’ spielt der Einzelne keine Rolle mehr, die unblutige Diktatur nimmt Form an, auf solch archaische Dinge wie Folter kann fürderhin verzichtet werden. Ausnahmen, die die Regel bestätigen, sind Leute wie Assange oder Snowden: sie drohen mit Metadaten über die Metadaten-Besitzer.
Februar 4th, 2020 at 12:53
Immer mehr Schulkinder sind depressiv
Traurigkeit, Appetitlosigkeit, Rückzug – Symptome einer Depression. Diese Diagnose gäbe es bei Schulkindern in Baden-Württemberg immer häufiger, so eine aktuelle Studie im Auftrag der Krankenkasse DAK.
Abschied von der Mittelschicht: Die prekäre Gesellschaft | Doku | ARTE (yt, 1:29h)
Rund ein Drittel aller Beschäftigten in Europa lebt in Unsicherheit. Obwohl sie Arbeit haben, teilweise sogar mehrere Jobs gleichzeitig, kommen sie nur knapp über die Runden. Sie bilden das sogenannte “Prekariat”. Die wachsende Angst vor der Armut führt zu einem Gefühl des sozialen Ausschlusses und auch zu Zweifeln an der Demokratie. Populistische Parteien profitieren.
OT: “Thank you, goodbye and good riddance”
*lol*
Februar 4th, 2020 at 17:25
Düsseldorf. Hartz-IV-Beziehern sollte nach Auffassung mehrerer Landesarbeitsminister der Union auch künftig die Unterstützung komplett entzogen werden können, wenn sie nicht kooperieren.
Und es soll sein ein Heulen und Zähneklappern. Hunger sowieso. Genau.
Februar 4th, 2020 at 19:36
@flatter (#7)
Es gibt auch Stimmen, die den Brexit in anderem Licht erscheinen lassen – ziemlich ausführlich zitiert hier. (ich kann dem zitierten Artikel inhaltlich viel abgewinnen).
Februar 4th, 2020 at 19:40
@Peinhart: Ach, der hier: NRW-Minister will weniger Geld für „junge Säufer“
Februar 4th, 2020 at 19:51
@Vogel: ja, es gibt Mechaniker, die betrachten die Reifen völlig anders als den Motor. Es geht in meinem Kommentar um die Praxis des Brexit, eben nicht um – für mich irrelevante – Motive.
Februar 4th, 2020 at 20:14
Dann simmer ja einisch, gell: Motor und Reifen sind verschieden … und gehören doch dazu, damits funst.
Februar 5th, 2020 at 12:15
Danke für das Aufgreifen des Themas. Dazu lässt sich in der Tat ein ganzes Buch schreiben.
Ich finde es wichtig immer mal wieder auf diesen Zusammenhang hinzuweisen, denn dann bekommen sämtliche Glücksversprechen durch Politik und Wirtschaft, Konsum, Dienstleistungen etc. ein ganz seltsames Geschmäckle. Glücklich sein, heißt doch angstfrei sein – warum installieren dann aber Politik und Wirtschaft überall Mechanismen und Strukturen die genau das verhindern?