Bundesarchiv, B 145 Bild-F073603-0035 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA 3.0
Am 10.11. 1988 hielt Bundestagspräsident Jenninger eine Rede zur Feierstunde im Bundestag, die ihn sein Amt kosten sollte. Drei Jahre nachdem die Rede Weizsäckers als Jahrhundertrede bejubelt worden war, erfuhr Jenninger, wie man in Deutschland nicht sprechen durfte. Was er formulierte, war freilich an Ungeschick schwer zu überbieten, da er seine indirekte Rede nicht ausdrücklich kenntlich gemacht hatte.
Sie entsprach in keiner Weise dem Kultus, mit dem der Holocaust im Land der Täter abgefeiert wird. Es ist Trauermiene anzulegen, die Opfer sind zu bedauern und es herrscht Schweigen zu der Frage, wer die Täter waren, warum sie es taten und was aus ihnen wurde. Als Einstieg hier eine der Phrasen, die dem untalentierten Redner anzurechnen sind:
„Und was die Juden anging: Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt – so hieß es damals -, die ihnen nicht zukam? Mussten sie nicht endlich einmal Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar verdient. In ihre Schranken gewiesen zu werden?“
Wer denkt was
Jenninger wurde vorgeworfen, man könne das als sein Denken interpretieren, als Zustimmung zu nationalsozialistischem Gedankengut. Isoliert betrachtet, müsste man das wohl, aber im Zusammenhang verbietet sich dergleichen. Jenninger fuhr an der nämlichen Stelle fort:
„Und vor allem: Entsprach die Propaganda – abgesehen von wilden, nicht ernst zu nehmenden Übertreibungen – nicht doch in wesentlichen Punkten eigenen Mutmaßungen und Überzeugungen?“
Es ist zu ahnen, dass dieser Vorwurf an die Deutschen, das sei ihr Denken gewesen und sie hätten dem zugestimmt, das politische Kernproblem war. Kein Entrinnen, keine Ausrede wie die Weizsäckers, da habe eine kleine Bande von Mördern das ganze Volk missbraucht. Jenninger hat diesbezüglich Tacheles geredet:
„Die zwangsweise Umsiedlung aller Juden […] wäre vermutlich auf Zustimmung gestoßen. [...] Wahr ist aber auch, dass jedermann um die Nürnberger Gesetze wusste [...] und dass die Deportationen in aller Öffentlichkeit vonstatten gingen. […] »Das Wesentliche wurde gewusst.« [...] Am Ende standen die Juden allein. Ihr Schicksal stieß auf Blindheit und Herzenskälte. [...] Viele ermöglichten durch ihre Gleichgültigkeit die Verbrechen. Viele wurden selbst zu Verbrechern.“
Die Deutschen und ihr Führer
Das ist im Rahmen des Narrativs das Unerhörte, der Skandal. Jenninger wich von der Linie des verführten Volkes ab. Er durchbrach den Burgfrieden zwischen den Funktionären aller Parteien, Fraktionen und Vereinigungen rechts von den Linksextremen. Hätte man diese Sicht der Dinge zugelassen, wäre man nicht umhin gekommen zu fragen, wo denn alle diese Verbrecher geblieben waren und wie aus der Überzeugung und der Zustimmung der Vielen so schnell eine demokratische Gesinnung werden konnte. Jenninger lieferte auch folgendes ab:
„Die meisten Deutschen – und zwar aus allen Schichten: aus dem Bürgertum wie aus der Arbeiterschaft – dürften 1938 überzeugt gewesen sein, in Hitler den größten Staatsmann unserer Geschichte erblicken zu sollen.“
Dies wurde Jenninger als Lobeshymne auf Hitler angekreidet. Tatsächlich durchbricht diese Ansicht das Narrativ von der Kluft zwischen der bösen Führung und den verführten Deutschen. Würde man das akzeptieren, sähe man die Blutspur, die aus dem Führerhauptquartier in die entlegensten Dörfer und wieder zurück führte. Es hätte bedeutet, andere Erklärungen zu finden und zu akzeptieren. Erklärungen, die kein Ende der Geschichte im Mai 1945 zugelassen hätten.
Eine der wichtigsten Kritikerinnen Jennigers war Marion Dönhoff, Herausgeberin der „Zeit“. Was sie ihm vorwarf:
Große Gefühle
„Aber weder spricht er von dem Leid, das die Überlebenden und Hinterbliebenen empfinden, noch von der nie zu tilgenden Schande, die die Deutschen mit dem planmäßigen Mord an sechs Millionen Juden auf sich geladen haben. Der Redner hielt vielmehr ein deplaciertes pseudohistorisches Kolleg, in dem vor allem von den Deutschen vor und nach 1945 die Rede ist.“
Was die Schande anbetrifft, war Jenninger hingegen sehr deutlich:
“An Auschwitz werden sich die Menschen bis an das Ende der Zeiten als eines Teils unserer deutschen Geschichte erinnern. Deshalb ist auch die Forderung sinnlos, mit der Vergangenheit endlich Schluss zu machen. Unsere Vergangenheit wird nicht ruhen, sie wird auch nicht vergehen.”
Von den Deutschen zu reden, ist aber deplaziert. Dies ist ein Leitmotiv des Narrativs in Bezug auf den Holocaust, auf den Punkt gebracht. So will es das Regelwerk der großen Erzählung:
„Er vermittelte keinerlei Empfindung. Da nützt es denn auch nichts, dass die Rede im Nachlesen weniger Emotionen auslöst. Es bleibt die Frage: Wie kann ein Politiker, der doch weiß, wie heikel dieses Thema ist, so bar jeden menschlichen Gefühls reden?“
Es geht um Gefühle. Wärme. Eine heimelige Atmosphäre, in der gemeinsam der Opfer einer mythischen Macht gedacht wird und aus der man mit einem guten Gefühl nach Hause geht. Emotionen sind anzuregen, nicht Fragen. Es geht um ein Gemeinschaftsgefühl, nicht um Wissen. Gedenken soll kein “Kolleg” sein; es ist eine Heilige Messe.
Mai 9th, 2017 at 15:12
Nice one flatter, darauf ein bewegendes Streicher-Terzett!
Mai 9th, 2017 at 15:23
Sehr schön und für den letzten absatz ganz besonders: chapeau. Der Jenninger konnte einem damals in gewisser weise ‘leid tun’, der wusste/verstand gar nicht wie ihm anschließend geschah (so meine erinnerung).
Mai 9th, 2017 at 16:54
@L´Andratté DER Streicher??
Ich kann mich noch entsinnen wie im Deutschunterricht die geschichtsklitternde Rede des Herrn Weizsäcker als Meilenstein in der deutschen Geschichte gelobt und sich jede Kritik daran verbeten wurde, während der gleiche Lehrer später schäumend von Jenningers Entgleisungen, gar einer Schande sprach.
War einfach nicht simpel genug und vor allem zu ehrlich für seine Politikerkollegen und das Journalisten-Gesindel. Ein Deutschlehrer HÄTTE es intellektuell nachvollziehen können sollen, das mit dieser indirekten Rede und so Satzkontrsuktionen und so… Aber der Kopf arbeitet so schlecht wenn einem die Morgenzeitung sagt, dass man gefälligst entrüstet zu sein hat.
OT: Rassenkontrollen schneller zurück als gedacht!
Mai 9th, 2017 at 17:10
Ich bin ja dafür, dass nur noch Kroaten Krawatten tragen dürfen.
Mai 9th, 2017 at 18:11
Danke sehr für den Text, flatter.
Habe zur Jenninger-Rede über metager einen Artikel gefunden, der einen Absatz mit der Überschrift
“Rezeptionsverhalten der Abgeordneten” enthält:
“… Noch bevor Jenninger eine inhaltliche Aussage zu den Pogromen gemacht hatte, die nach Wahrheitskriterien hätte beurteilt werden können, rief ihm die Abgeordnete Jutta Österle-Schwerin von den Grünen ihr Urteil zu: “Es ist doch alles gelogen”.
Wie sie in einer späteren Fernsehsendung selbst zugab, war sie über die Abschiebung tamilischer Flüchtlingskinder so entsetzt, daß sie sich den Zwischenruf schon vor der Rede vorgenommen hatte: “Insofern war mein Zwischenruf ein vorbereiteter Zwischenruf, der sich eigentlich nicht auf die Rede bezogen hat” (Hill 1989, 27). Nach diesem Zwischenruf kam es zu erster Unruhe im Parlament, Abgeordnete der Opposition verließen den Plenarsaal. Dadurch wurde “eine weithin oberflächliche, unaufmerksame und neurotische Rezeptionshaltung verstärkt” (Polenz 1989, 302). Die Bedeutung der Unaufmerksamkeit im Hörerverhalten kann kaum unterschätzt werden. …”
http://buecher.hagalil.com/lang/jenninger.htm
Manche gewählte Volksvertreter/innen waren wohl auch schon damals nicht die hellsten Kerzen auf der Torte.
Der leider viel zu früh verstorbene Roger Willemsen hat sich 2013, ein Jahr lang, Bundestagsdebatten live angetan und seine Eindrücke in einem Buch mit dem Titel “Das hohe Haus” sowie in einer szenischen Lesung verarbeitet:
https://www.youtube.com/watch?v=bW8rbQRYjXY
Danach wundert einen nichts mehr in unserer repräsentativen Demokratie.
Mai 9th, 2017 at 19:51
OT:
@ 3:
Burks und Kommentare ;-))
https://www.burks.de/burksblog/2017/05/06/wursthaare-verboten
Mai 9th, 2017 at 22:27
Jezz fällt’s mir wieder ein, warum mir Jenninger in gundsätzlich guter Erinnerung geblieben ist.
Mai 9th, 2017 at 22:40
Auch zum Narrativ (via Burks): Andreas Westphalen (Rubikon) zur Geschichtsmanipulation bezüglich II. Weltkrieg.
Mai 9th, 2017 at 23:24
@5
Ja, das Buch ist wirklich exzellent, sollte für alle Pflichtlektüre sein , die (immer noch) glauben, dass dieses Parlament in diesem Zustand und in seiner Gesamtheit zu irgend etwas gut wäre.
Mai 10th, 2017 at 13:56
Ist das Spielchen nicht auch mit Köhler im Bezug auf die “inoffiziellen” Beweggründe für Militäreinsätze abgelaufen? Bei ihm wars noch tabu darüber zu sprechen, dass es womöglich wirtschaftliche Interessen sind (Handelswege und so). Er wurde dann auch gegangen. Bei Gutti und Dauer … ehmm Westerwelle wars dann aber nicht nur OK, sondern fand sogar teilweise breitere Zustimmung.
Mai 10th, 2017 at 14:55
Man bemüht sich stets um eine politische Korrektheit, formuliert sie zumindest so. Damit sich Zuhörerschaften nicht gleich aufregen. Alles schön piano. Und immer auch an Mitgefühl und Emotionen appellieren. Deckel drauf und ziehen lassen.
Mai 10th, 2017 at 17:15
Und nochmal Narrativ und Manipulation, diesmal den ‘größten Deutschen Bundeskanzler’, ‘Nazi-Verfolgten’ und ‘aufrechten Demokraten’ Konrad Adenauer betreffend. Nebst einem lang gehegten Wunsch der deutschen ‘Eliten’, den Adenauer gleich im Anschluß an den zweiten gescheiterten Versuch neu aufsetzen durfte. Folglich sind wir immer noch mittendrin im dritten…
Mai 11th, 2017 at 14:11
Flatter super Text und ein Hammer Link in der Nr.8.
Mai 11th, 2017 at 14:33
@Fred(13)
Vielleicht kriegt ja dadurch auch der eine oder andere mal für Sekunden eine Idee davon (Link in #8) wie ich Ostelbien-Sozialisierter die Reste meines Gehörs und Gehirns vergewaltigen muß, um nicht ständig meine Augen turborollen zu lassen…
Mai 11th, 2017 at 21:49
Link in #8 *gähn* (scnr) sollte eigentlich Binse sein, wer sich aufmerksam mit dem Thema beschäftigt (scnr2).
Mai 12th, 2017 at 05:13
Na ja, “gähn” is wohl ein bischen überheblich. Was deine “Binse” angeht, ich beziehe mich hier auch eher auf die persönlichen Tagebuchaufzeichnungen und der Feldpost. Na, vielleicht haste ja nen interessanten Buchtipp od. ä.der in Hinsicht persönliche Erlebnisse verarbeitet? Wäre mal was konstruktives.
Mai 21st, 2017 at 11:39
Also mir ist im Gedächtnis geblieben das Jenniger,sowas von den falschen Tonfall drauf hatte sprich das die deutschen Täter so handeln mussten wie sie gehandelt haben und deshalb Verständnis verdient hätten-
so ist es jedenfalls bei mir angekommen.
Sobald ich daran denke “gruselt” es mich auf die unangenehmste verstörrenste Art,die möglich ist und ich finde wie beim sonst üblichen Horrorgrusel keinen “Relief”!