“Wachstum”, ein Knebel
Posted by flatter under journalismus , narrativ[22] Comments
19. Aug 2016 14:47
Zum Thema Narrativ, Neusprech und Propaganda weist OXI hier auf eine Studie hin, die sich intensiv mit der Karriere des Begriffs “Wirtschaftswachstum” befasst. Fruchtbar ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis auf den einstmals populären Begriff “Bruttosozialprodukt”, der nach meinem vagen Empfinden Ende der 80er/Anfang der 90er anderen Floskeln weichen musste. Dieses Detail ist nicht zuletzt deshalb relevant, weil die sich traditionell als Gatekeeper und Erklärbären auffassenden Journalisten recht flächendeckend nicht gewusst haben werden, was das überhaupt bedeutet. Heute spricht alle Welt nur mehr vom Bruttoinlandsprodukt, einer Größe, die freilich wieder ebenso als Selbstzweck (groß ist gut) dargestellt wird.
Wer es noch schafft, dem Genöle unserer Bundeskanzlerin zu lauschen (die mich immer wieder an Loriots sprechenden Hund erinnert), hört vor allem “Wachstum, Wohlstand. Arbeitsplätze“. Mit dem Wohlstand sind sie etwas sparsamer, der taucht gemeinhin nur in Kombination auf und gern als eine Art Aussicht, eher denn als eine Zustandsbeschreibung. Die Menschen könnten sonst allzu schnell aus dem Hemd springen. Die Karriere des “Wachstums” ist vor allem ein Sieg über den Begriff “Profit”. Dass jemand profitiert, darf nicht gesagt werden. Ebenso gibt es bis weit in die sich als “links” verstehende Fachexpertenschaft kein Wort mehr für “Kapital”. Der Profiteur oder Kapitalist heißt “Unternehmer”, “Arbeitgeber” und “Investor”, während “Kapital” in Kategorien wie “Investition” und “Vermögen” zerfällt. Wer das Sprechen über Wirtschaft semantisch so zersägt, erstickt das Verständnis für bestimmte Zusammenhänge im Keim.
Unsagbar
Dass die Produktionsverhältnisse soziale Beziehungen sind, steht derweil am ganz anderen Ende des Diskurses. Ein Denken an Machtverhältnisse, wie sie ausgeübt werden und wie diese Verhältnisse beeinflusst werden können, weicht dem gemeinsamen Ziel “Wachstum”. Dieser sprachliche Prozess ist ungemein wichtig für die neoliberale Ideologie, denn so können Gewerkschaften darauf festgelegt werden, dem ‘Guten’ zu dienen, woraus folgt, dass sie nicht mehr ihre Mitglieder bzw. die Lohnabhängigen vertreten, sondern die Interessen der Gegenseite. Das ist dann vernünftig, während Arbeitskämpfe nur das Werk einzelner machthungriger Zerstörer sein können (siehe Weselsky/GdL). Spräche man stattdessen von Profiten, Mehrwert und Beteiligung am erarbeiteten Reichtum, sähe die Welt völlig anders aus.
Wenn die Einkünfte der Reichsten explodieren, weil sie angesichts insgesamt sinkender Profite immer mehr Kapital an sich binden, wenn sich immer schneller immer größere Oligopole bilden, dann ist das halt der Preis, den man fürs Wachstum zahlen muss. Der Neoliberalismus hat das für einige Jahrzehnte gar erfolgreich mit der Lüge vom “Trickle Down” verkauft, die allerdings zunehmend auch vom Mainstream kritisiert wird. Dass aber das Ganze nie dem Ganzen dient, sondern immer nur dem Profit, wäre die korrekte Beschreibung des Zustands. Man muss aus Geld mehr Geld machen. sonst bricht der Laden zusammen. Auf die Dauer kommt es dabei zwangsläufig zur massiven Konzentration von Kapital. Übersetzen Sie das einmal in die Terminologie der Marktwirtschaft®!
August 19th, 2016 at 22:00
“Übersetzen Sie das einmal in die Terminologie der Marktwirtschaft®!”
Schon klar,geht nicht. Es passt nicht in die Terminologie der Marktwirtschaft, auch nicht wenn diese “neue soziale Marktwirtschaft” heißt. Das neolibarale Wirtschaften ist längst dort angekommen, wo man früher vom “Stamokap” sprach. Das “Sta” muss man eigentlich jetzt allerdings aus dem Begriff entfernen.Übrig bliebe “Mokap”, Monopolkapitalismus. Markt ist das nicht mehr, sondern Macht. Friß oder stirb. Eine Veranstaltung, die allerdings den Staat schon noch braucht, als Dienstleister und Nachtwächter, wenn auch nicht mehr selbst als Mitprofiteur, der dann von seinem Profit wenigstens noch ordentlich was zu verteilen hätte: An die Gesellschaft (die es ja nicht mehr gibt), und in die Erhaltung der Infrastruktur. Eine Zuständigkeit, die er inzwischen selbst auch schon an die Mono-oder jedenfalls Oligopole abgibt. Denn er selbst soll ja ausgehungert werden, er soll Polizei und Militär sein, ansonsten schwarze Null. Ein Staat, der Geld hat, ist nicht mehr erwünscht. Geld haben sollen nur noch die, die daraus mehr Geld zu machen wissen. Zu diesem Zweck soll ihnen auch die (bislang) öffentliche Infrastruktur überlassen werden. Können die Privaten wirklich besser als der Staat öffentliche Infrastruktur organisieren? Selbstverständlich können sie nicht. Wenn aus dem gesamten individuellen und öffentlichen Leben Gewinn gezogen werden soll, geht das nur in zwei Richtungen: Entweder mit Verarmungswirtschaft (Hartz und Billigheimerketten)oder mit Gewinn, der nur noch Luftbuchung ist. Allerdings – es geht offenbar auch beides zugleich. Armutswirtschaft UND Luftbuchungsgewinne. Hört auf den schönen Namen “Finanzkrise”.
August 20th, 2016 at 00:52
Das Bruttosozialprodukt ist die Summe des zirkulierenden Geldes: ich verkauf dir meine Stereo-Anlage für’n Fuffi. Du tapezierst mein Zimmer für’n Fuffi. Hinterher haben wir genau so viel Geld wie vorher, aber das Bruttosozialprodukt ist um einen Hunni gewachsen; außerdem hast du eine schicke Anlage und ich ein schickes Zimmer.
Die Geld-Zirkulation ist ein valider Indikator für funktionierende Wirtschaft. Kein goldenes Kalb.
August 20th, 2016 at 01:05
Zur „Trickle-Down“-Theorie, also der Annahme, dass obszön hohe Vermögen zum niederen Volk absickern, wäre zu sagen, dass es genau dann funktionieren würde, wenn es in die Geld-Zirkulation eingespeist würde.
Genau das geschieht nicht. Sondern es wird gebunkert. Trickle Down ist ein Trugbild.
August 20th, 2016 at 10:20
ich versteh sowieso nicht, wie diese these unter “theorie” abgeheftet wurde; also ich verstehs schon, es gibt ja auch die wirtschafts”wissenschaft”, aber wenns se schon mit “wissenschaft” kommen, sollten se wenigstens die korrekte terminologie verwenden.
August 20th, 2016 at 20:23
“trickle down” funktioniert auch dann nicht, wenn es funktioniert. Was laut 3. dann der Fall ist, wenn obszön hohe Vermögen nach unten zum niederen Volk durchsickern und nicht gebunkert werden.
Trickle down, anders ausgedrückt, heißt, es geht den Spatzen gut, wenn die Pferde ordentlich Hafer bekommen.
Danke, und guten Appetit.
August 20th, 2016 at 21:06
ergänzend zu 1.
Marktwirtschaft oder Machtwirtschaft?
Siehe den Umgang der oligopolen Einzelhandelsketten (Discounter) mit ihren Lieferanten. Es geht zu wie im Boxring. Discount: count down. 8-9-10 -k.o.
Siehe die gegenwärtige Zulieferer-Affäre bei VW. Wobei hier noch nicht ganz klar ist, wer eigentlich wem gerade seine Macht zeigt.
Der Kunde, der “König”, steht staunend neben dem Geschehen. Er kommt in dem Spiel irgendwie gar nicht vor. Ist eben “Markt”.
August 20th, 2016 at 21:45
@Balken: Die sogenannten Märkte sind das historische Ergebnis von Enteignung und blanker Gewalt. Ethnologen konnten z.B. die Behauptungen A. Smiths bis heute nicht verifizieren, dass sich jemals ein Markt des unmittelbaren Tauschs etabliert hätte. Im Gegenteil ist es so, dass sich von der “Zivilisation” unberührte Naturvölker in zeitlich verzögerter Reziprozität üben.
Witzigerweise ist Smiths Hauptwerk “The Wealth of Nations” trotz vieler unbewiesener Behauptungen zum Dreh- und Angelpunkt der Schwärmer des Kapitalismus geworden, weil endlich ein Werk zur Verfügung stand, das den Wirtschaftsdenkern einen den Naturwissenschaften ebenbürtigen Unterbau, also eine wissenschaftliche Basis liefern sollte.
Man sollte auch nicht vergessen, dass Smith ein zweites Buch mit dem Titel “The Theory of Moral Sentiments” geschrieben hatte, das er wohl als Gebrauchsanleitung für sein “Der Reichtum der Nationen” verstanden hatte. Komischerweise liest man darüber fast nie etwas.
August 20th, 2016 at 22:01
Mythologie lässt sich in der ‘Ökonomie’ hervorragend zwischen Formeln und Zahlen verstecken. Dass sie voller Haarsträubender Postulate stecken, die empirisch und historisch widerlegt sind, darüber geht der Zirkus fröhlich hinweg.
August 20th, 2016 at 22:11
Wenn ich nur daran denke, wie viele hier schon geschrieben hatten, der “Mensch sei eben so”, dann wird mir selbst im Nachhinein noch ganz schön blümerant zumute.
Kleine Korrektur: Das adäquate Adjektiv ist “frustriert”.
August 21st, 2016 at 11:03
Bonker! In den Bonkerr! Money Quote: “dennoch sei es nötig, sich trotzdem“. Jawollherrgauleiter.
August 21st, 2016 at 12:20
LOL – haben die das Bochumer Programm gelesen? Von “staatlichen Leistungen unabhängig” hätte ich auch gern, allerdings sind meine Gründe ein wenig anders…
August 21st, 2016 at 12:24
@Wat.: Ich dachte auch zunächst, die wollen jetzt Wasser und die Nahrungsmittelproduktion kollektivieren. Warum man sich jedoch nur im Falle eines Angriffs selbst mit Essen und Wasser versorgen können soll, verstehe wer will.
Zu Hamsterkäufen sage ich nur: Wohl dem, der ein peruanisches Kochbuch im Regal stehen hat. Okay, der war alt.
August 21st, 2016 at 12:27
Peruanisches Kochbuch? Ich empfehle Lichtnahrung.
August 21st, 2016 at 19:44
Ja, ja, jetzt wird wieder auf die Flüchtlinge gespuckt,
wir steigern das Brutaloinlandsprodukt …
August 21st, 2016 at 21:50
“Bundesregierung: Bürger sollen Lebensmittel und Bargeld bunkern
Die Bundesregierung fordert die Bürger auf, einen Lebensmittelvorrat für zehn Tage anzulegen. Dies soll für den Krisen-Fall dienen, von dem man nicht weiß, ob es sich um den Ausbruch eines Krieges oder einen Finanz-Crash handelt. Die Bundesregierung sorgt sich auch um die eigene Sicherheit. [....]”
http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2016/08/21/bundesregierung-buerger-sollen-lebensmittel-und-bargeld-bunkern/
Vielleicht mal ein ganz interessantes Thema !
August 21st, 2016 at 22:04
@Testostheron: Im Prinzip ja, aber ich mag es, wenn man die Kommentare zuvor liest – wenn es so wenige sind. Ist in #10 schon verklinkt.
August 22nd, 2016 at 00:15
@flatter: OK, Dann lösche meinen Beitrag bitte.
August 22nd, 2016 at 00:29
Achwas, so’n doppelt hält ja auch schon mal besser ;-)
August 22nd, 2016 at 07:56
@10. 15. 18: Auch Jodtabletten sind in NRW seit einigen Monaten kostenlos für Schwangere und Minderjährige im Angebot.
http://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/jodausgabe-an-kommunen-100.html
Ich lass vorsorglich schon mal die Rolläden unten.
August 22nd, 2016 at 13:34
OT: Das postfaktische Zeitalter
In der digitalen Welt wäscht ein Permaregen der Informationen ganz zentrale Standards wie Objektivität und Wahrheit aus. Die Folge: eine Demokratie der «Nichtwissenwollengesellschaft». [..]
Bewirtschaftung von Launen: Das ist die politische Verlockung des postfaktischen Zeitalters. Ihr kommt die Internetgesellschaft als «Nichtwissenwollengesellschaft» entgegen. Wir fragen nicht, wie man objektives Wissen gewinnt und wie es begründet ist. Wir googeln. Wir haben die Suchmaschine bereits dermassen internalisiert, dass wir Wissen und Googeln gleichsetzen.
Das führt zum gefährlichen Zustand erkenntnistheoretischer Verantwortungslosigkeit. Google-Wissen ist Wissensersatz. Es treibt uns das «Sapere aude» Kants aus: Wagnis und Mut, nach Gründen zu fragen, eine Aussage zu prüfen, bis wir herausgefunden haben, ob sie stimmt oder nicht. Demokratie ist der politische Raum, der uns das Recht für dieses Fragen und Prüfen gibt. In ihm beugt sich die Macht dem Argument, nicht das Argument sich der Macht. Allein schon indem man dies ausspricht, muss man zugeben, dass von einem gefährdeten Ideal die Rede ist. Die Zersetzung der Demokratie beginnt mit der Zersetzung ihrer erkenntnistheoretischen Grundlagen. [..]
August 22nd, 2016 at 14:24
OT: Ein Hamsterkauf der anderen Art: Litauen kauft 88 deutsche Panzer
Das ist doch mal ein gut gewählter Zeitpunkt.
August 23rd, 2016 at 07:52
Und vor allen die Anzahl der gekauften Panzer. ;)