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Ein Artikel vom Ende letzten Jahres (via fefe) über das Ausmaß des Unglücks in der Gesellschaft, hier den USA, hat mich sehr beeindruckt. Der Autor ist Scott Alexander, Psychiater, und hat sich gefragt, warum manche Menschen, denen er beruflich begegnet, so viel Leid erfahren. Daher hat er sich u.a. mit diesbezüglichen Statistiken befasst. Das Resultat:

– 1% sind im Gefängnis
– 2% sind auf Bewährung.
– 1% sind in Pflegeheimen oder Hospizen.
– 2% sind dement.
– 20% leiden unter chronischen Schmerzen.
– 7% sind depressiv.
– 2% sind kognitiv beeinträchtigt.
– 1% sind schizophren.
– 20% beziehen Lebensmittelmarken.
– 1% sitzen im Rollstuhl.
– 7% sind Alkoholiker.
– 0.5% sind heroinabhängig.
– 5% sind offiziell arbeitslos (also registriert als Arbeit suchend).
– 3% beziehen Gelder als Arbeitsunfähige.
– 1% erfahren jedes Jahr häusliche Gewalt.
– 10% wurden als Kinder sexuell missbraucht.
– Ca.20% wurden körperlich misshandelt.
– 9% wurden vergewaltigt.

Make Pain, make more Pain

Dies nur sind einige Aspekte, unter denen man erfahrenes Leid oder Unglück erfassen kann. Diese potenzieren sich noch, wenn man sie im Familienumfeld betrachtet. Das erklärt einiges; unter anderem, dass sich verdammt viele Menschen mit Recht als Opfer fühlen können. Zumeist sind sie still, denn die wenigsten outen sich als Suchtkranke, Missbrauchsopfer, Knackis oder Arbeitslose. Besonders heikel ist die Tatsache, dass viele der Betroffenen für ihr Leid noch beschuldigt und herabgewürdigt werden. Man denke nur an den Umgang mit Suchtkranken oder Arbeitslosen oder der Schnittmenge aus beiden. Solche Menschen sind moralisch vogelfrei.

Wenn man jetzt noch zur Kenntnis nimmt, dass den Wenigsten in die Wiege gelegt ist, ihre Beeinträchtigungen kognitiv zu verarbeiten, ergibt das Ganze das Bild eines sozialen Pulverfasses. Wie ‘verarbeitet’ man erfahrenes Leid, über das man nicht sprechen kann oder darf? Depression ist ein Weg, aggressive Projektion ein anderer: Man gibt die empfundene Schuld weiter und packt das Leid gleich mit dazu. Auch deshalb brennen Flüchtlingsheime.

Hilf dir selbst

In einer Konkurrenzgesellschaft, wo nicht bloß jeder selbst schuld® ist, sondern „seines Glückes Schmied“, erfüllt sich der totale Albtraum. Noch ehe den Betroffenen über den Kopf gekippt wird, ihre Malaise sei bloß eine Ausrede, wurden sie ja schon zum Schweigen verurteilt. “Sei erfolgreich oder Abschaum” ist die Devise. Wer hier aus der Kurve kippt, wird zwar nach allen Regeln der Kunst entmündigt und als behindert eingestuft, indem er zur „Wiedereingliederung“ ansteht, das ist aber eben nur eine Forderung: Selbst Almosen hast du dir zu verdienen!

Ich hatte vor gut zehn Jahren diesen Text geschrieben (58 Seiten, .pdf), den ich hier oft „das Fürsorgedings“ nenne. Ich fühle mich in der Annahme bestätigt, dass der krankhafte Zwang zur Selbstsorge abgelöst werden muss durch eine Gesellschaft, die ihrer Bezeichnung gerecht wird; in der sich die Menschen wieder umeinander kümmern. Maggie Thatcher hat die noch immer gültige Parole ausgegeben: „Es gibt keine Gesellschaft“. Sie hat völlig recht. Der Kapitalismus hat aus allem Elend der Welt eine Hölle der Konkurrenz errichtet, der niemand entkommt.

Update: Auf allgemeinen Wunsch einer Einzelperson wurde das Fürsorgedings in .pdf konvertiert.

p.s.: Der Genosse hat das Dokument neu formatiert und neueste technische Errungenschaften wie Seitenzahlen hinzugefügt. Er lebe hoch!