Das Ende der Lottogesellschaft
Posted by flatter under kapital , sozialzeugs[26] Comments
20. Dez 2015 21:22
Stefan Raab hat gestern seine vorläufig letzte TV-Show abgespult. Da ich solche Veranstaltungen und ihre Hintergründe hier viel zu selten bespreche, nehme ich das einmal zum Anlass, über das Phänomen “Brot und Spiele” zu räsonieren. Wie ich las, hat am Ende der Circenses jemand eine Million Euro ‘gewonnen’, indem er mit einem Spielzeug einen Ball in die Luft “klackerte” und wieder einfing. Dies war wohl Anlass zu dem entgeisterten Ausruf: “Mit Klackern!“, was soviel bedeutet wie dass er fürs erfolgreiche “Klackern” mit 900.000 Euro entlohnt wurde.
Irrtum; das ist der Warenpreis, den der Investor bestimmt hat. Es hat seine Gründe, und die heißen “Profit”. Jeder hat seinen Preis, jederzeit, für alles. Wie oft habe ich schon gehört: “Das würdest du doch auch tun für das Geld!”, und meist glaubt man mir nicht, dass ich es eben nicht täte. Es fällt dabei schon auf, dass es immer dieselben Wege sind, die einem da zum Glück angeboten werden: Spielshows und Lotto. Der Lottogewinn ist längst sprichwörtlich, wie viele Phantasien beginnen mit den Worten: “Wenn ich einmal im Lotto gewinne …”!
In der Raab-Show musste die Summe Geldes verpulvert werden, die das Management einkalkuliert hatte, um einen adäquaten Profit zu erzeugen. Diese Summe war eingepreist. Am Schluss musste irgendwer die Kohle mitnehmen, denn es gehört zu dieser Form des Entertainments, primitive Anteilnahme zu erzeugen. Sei es Neid, sei es Gönnen, sei es die sehr willkommene Vorstellung, man habe selbst einmal solches Glück. Der ‘Gewinner’ war zur rechten Zeit am rechten Ort. Seine Funktion ist die des Exemplars, das belegt, dass es jeder schaffen kann.
Ein Raabvergleich
Raab wird derzeit gern mit Jan Böhmermann verglichen. Das hinkt ganz ordentlich. Raab ist ein höchst effizienter Medienmanager, der von genialischer Kreativität bis zu primitivem Mobbing alle Register gezogen hat, um mit Erfolg, sprich Gewinn zu unterhalten. Böhmermann ist noch ein Provokateur mit Niveau, ein konstruktiver Troll, der sich eine Nische zunutze gemacht hat.
Wo Raab klassische Reflexe genutzt hat, spielt der Neue auf dem Deck der Titanic schmutzige Lieder, die zu spät gekommene Wahrheiten ausplaudern. Dies nicht zuletzt, indem man nicht so recht weiß, ob das noch Ironie ist oder schon Zynismus. In seinem aktuellen Schlager “Ich hab’ Polizei” verherrlicht er die Macht der Staatsmacht, hinter der sich der Bürger verstecken kann und disst so die (Möchtegern-)Gangster mit ihren begrenzten Gewaltmitteln. Besonders gefällt mir die Zeile: “Ich ord’re owne Polizei, denn ich zahl’ Höchststeuersatz”.
Ich habe neulich schon geschildert, wie die Zukunft auf Endzeit gepolt ist. Das gilt wohl auch fürs Entertainment. Wo Raabs konstruierte Frechheit noch den bürgerlichen Radfahrer und Möchtegerngewinner von vorn und hinten bedient hat, liefert Böhmermann das Pendant zur Zombieapokalypse. Polizeistaat gegen Gangster, Überlegenheit der Gewalt statt Freiheit – wenn man sich’s leisten kann. Das ist ebenso lustig und genau so traurig wie auf der anderen Seite radebrechende Sachsen und Money for Nothing. Nur dass der Lack ab ist.
Dezember 20th, 2015 at 21:59
Raab will und wollte nie etwas anderes, als unterhalten. Bei Viva führte er anfangs noch ein Nischendasein und wirkte teilweise etwas schrullig-rebellisch. Sobald aber die Quoten bei seinen Pro7-Sendungen hochgingen, stiegen auch die Werbeeinblendungen und Sponsorengelder. Beim Turmspringen war es letztlich am Extremsten: die ganze Schwimmhalle wurde mit Werbung vollgeklatscht. Selbst die Springer hatten Badeanzüge mit Werbung an. Am Ende muss es soviel gewesen sein, dass sie verpflichtet wurden oben rechts “Dauerwerbesendung” unter dem Pro7-Logo einzublenden. Was bei all seinen Sendungen an Werbeeinnahmen umgesetzt wurde, wäre als Investition in der Infrastruktur sicher besser aufgehoben gewesen.
Seit dem Böhmermann die geniale Varoufakis-Satire gebracht hatte und damit den Massenmedien einen Stinkefinger gezeigt hat, gehört er für mich in eine ganz andere Liga.
Dezember 20th, 2015 at 22:11
Sehe ich auch so. Der Witz ist, dass sie jetzt einen aus dem Hut zaubern wollen, der irgendwie zeitgemäßes Entertainment macht. Daher sage ich ja auch, dass das hinkt. Pro7 hat ein Riesenproblem mit dem Loch, das Raab hinterlässt. Ich finde so etwas spannend. Es findet sich offenbar nicht einmal ein brauchbarer Kasper, der den Durchhalteclown macht.
Dezember 20th, 2015 at 22:16
[Neid.]
[Vielen Horst! Säzzer]
Dezember 20th, 2015 at 23:41
“Raab wird derzeit gern mit Jan Böhmermann verglichen…”
WHAAAAAAT?!? von wem den?!? das ist doch lächerlich!
Dezember 20th, 2015 at 23:57
Lesen Sie Qualität!
Dezember 21st, 2015 at 01:05
@1
Wie ich kürzlich beim planlosen Zappen sah: Den männlichen “Promis” wurde die Werbung direkt auf die Brust gepinselt (zumindest vermute ich dass das (noch) keine Tätowierungen waren).
Ich dachte bei Pro7 seien Jonko und Klops oder so die neuen Heilsbringer? Ist das schon wieder out? (Die sind übrigens von Walulis sher schön parodiert worden, falls wer mal Langeweile hat..)
Dezember 21st, 2015 at 06:16
Ich owne Polizei, nicht ordre. So wird die Aussage noch besser. Ownen: Jugendlich für Beherrschen, Kontrollieren, Dominieren.
In der Tat ein großartiger Bitchmove, der Track, auch wenn er von vielen wieder nicht verstanden wird. Von den Skills mal abgesehen, der Mann hat Flow.
Dezember 21st, 2015 at 08:30
[...] Kenntnis ich für keine kulturelle Bereicherung hielte, und der gar schrecklichen Mitteilung, dass Stefan Raab nicht mehr den Clown gibt, einmal abgesehen kennt sie momentan nur noch ein großes Thema: Was soll der FC Bayern München [...]
Dezember 21st, 2015 at 09:01
Der Nachfolger, gefunden?
Dess hier könnte auch bekannt sein? “Trenne niemals U und E, denn es tut den beiden weh!” *lol*
Dezember 21st, 2015 at 10:42
@Kiezneurotiker: Ich wollte nur prüfen, ob ihr auch gut aufpastt hier!!1!
Dezember 21st, 2015 at 14:36
“Brot und Spiele”, ich mag den Begriff nicht, aber jeder kann es nennen wie er will.
Ich rege mich ja auch mehr oder minder häufig über den Unsinn auf, den die Leute sich reinziehen, weil es den Realitätssinn zersetzt (bei ihrer Lebensführung).
Erklärungen dafür, warum das so eine Beliebtheit hat, kann auch ich nicht (nur als Idee) liefern, außer wenn man da vielleicht von “frühkindlicher Prägung” spricht. Auf Deutsch: Die Leute tun sich diesen Zirkus an, weil sie es noch nie anders gewohnt waren außer durch bunte Bilder bespaßt zu werden.
Eine andere Idee, die man da mit hineinfließen lassen kann, ist die: Die Leute merken, wie wenig in ihrer Welt, in ihrer Umgebung nicht stimmt, aber sie wollen es nicht wahrhaben. Bis zum letzten Tag wollen sie glauben, dass noch alles gut wird. Auch wenn Träume nur Schäume sind.
Das kann man auf ausgeprägte Gutmütigkeit zurückführen – muss man aber nicht -, viel besser ist wohl aber Hilflosigkeit. Unwissen, was man effektiv gegen all den Unsinn in der Welt tun kann. Also, Kopf in den Sand, warten bis es weggeht. Bei allem anderen sind einem ja die Hände gebunden oder es machen nur 3 Leute mit.
Entertainment ist dort eine wunderbar gute Droge neben anderen, um seinen Verstand in die Bewusst- und Schmerzlosigkeit zu schicken.
Dezember 21st, 2015 at 14:59
@mm
Du sprichst viel und abfällig über “die Leute”, als wären die schuld an deinem Elend.
Aber “die Leute” in deinem Sprech sind keine Menschen, die Macht ausüben.
“Die Leute” sind also für dich schuldig durch Nichtstun. Das kann ich nicht ernst nehmen.
Dezember 21st, 2015 at 18:06
@matrixmann: “ich mag den Begriff nicht” – die Christen mochten den auch nicht, aber die Löwen fanden’s cool.
Dezember 22nd, 2015 at 08:50
@ frosch (12)
Wenn es überhaupt um irgendeine Form von Schuldzuweisung bei der Sache geht, dann ist sie folgendermaßen: Die Menschheit ist Schuld an ihrem eigenen Elend.
Für mein eigenes Elend bin ich selbst verantwortlich, insofern es durch Nichtstun entsteht.
@ flatter (13)
Ich mag den Begriff nicht aus dem Grunde, er springt mich so oft in deutschsprachigen Poltikblogs an, dass es äußerlich die Funktion übernimmt wie Begriffe in westlichen Massenmedien, z. B. “prorussisch”, “Assadregime”, “russische Aggression”, “Annexion der Krim”, “gemäßigte Rebellen” oder “Machthaber X” (der der westlichen Hierarchie missfällt).
Wirkt auf mich ähnlich wie das gegenseitige Abschreiben von einander und der geistige Inzest der wohl renommierten Medien.
Dezember 22nd, 2015 at 09:57
@mm (14)
“Die Menschheit ist Schuld an ihrem Elend”. Das ist so treffend und nützlich wie “Parallele Linien berühren sich in der Unendlichkeit”. Kann ich nichts mit anfangen und kann ich nicht weiter kommentieren.
Und wenn du behauptest, “für mein Elend bin ich selbst verantwortlich”, dann fährst du voll auf der (gewendeten) kapitalistischen Ideologie von “Jeder ist seines Glückes Schmied”.
Auch das ist nicht mein Ding.
Dezember 22nd, 2015 at 10:22
@matrixmann: Das Bild passt aber, man muss ja nicht jedes Sprichwort ablehnen, weil es eines ist. Das Prinzip “panem et circenses” ist eine klassische Herrschaftstechnik, ebenso wie “divide et impera”.
Was deine Schuldzuweisungen anbetrifft, muss ich frosch rechtgeben. Schuld ist für mich eh schon eine Kategorie, die ich rundum ablehne. Das Konstrukt “Eigentverantwortung” ist nur eine Variante davon, und wenn das so pauschal wird, geht das gar nicht.
Dezember 22nd, 2015 at 10:57
“Das Ende der Lottogesellschaft.” Nicht in Spanien. Klickt mal zum Spaß oben aufs Video.
Das ist der wichtigste Tag im Jahr, nicht die Wahlen. Seit 1812. Geldwäsche inbegriffen.
Dezember 22nd, 2015 at 12:37
@ frosch (15)
Ich habe das nur geäußert, weil gerade auf dem Begriff “Schuld” herumgeritten wurde. Selber nutze ich diesen Begriff und wofür er steht gar nicht, denn dort klingt genug zwischenmenschlicher Nonsens mit, der lediglich Schaden anrichtet. Anders ausgedrückt: Wenn man nur einen kleinen Blick erhascht, was aus Menschen für Wracke werden, wenn man ihnen dauernd mit Schuld kommt, für die allerkleinsten Verfehlungen und schlimmen Dinge, die ihnen widerfahren, dann lernt man, warum man solche Zuweisungen beiseite legen sollte.
Im Übrigen war der Zusatz “insofern es durch Nichtstun entsteht” nicht unwichtig. Wenn ich mein Tun unterlasse oder keinen Willen besitze, dann wird sich nichts tun. Wenn ich mich rühre und man wirft mir Steine in den Weg oder die Erfüllungsanforderungen sind unverhältnismäßig hoch gesetzt, dann sieht die Sache anders aus.
Für Bürokratie, die sich mir gegenüber knauserig verhält, für die bin ich nicht verantwortlich. (Zu anderen sind die genauso, wenn einer was will.)
@ flatter (16)
“divide et impera” ist auch so ein Begriff…
Nenn es vielleicht Paranoia oder irgendetwas verdrehtes – mir kommt es jedenfalls nicht als etwas gutes vor, wenn ich einen Narrativ mit einem anderen gebetsmühlenartigen Narrativ austreibe. Und “gebetsmühlenartig” trifft es schon bei manchen Begriffen, wenn ich denen streckenweise über ein halbes dutzend Blogs über den Weg laufe.
Um es mit etwas aus meinen eigenen Gefilden auszudrücken: Ob man die 80s nun durch den Fleischwolf von Trance oder von House dreht – am Ende kommt dabei in den meisten Fällen irgendein verhackstückelter Mist heraus, wo man den Komponisten fragen möchte “Das ist nicht euer Ernst?”. Von letzterer Musikrichtung bin ich kein zu großer Fan, mit ersterem kann man mich eher locken. Nur der Vollständigkeit halber zu wissen, damit man mir nicht ein “heute ist alles scheiße, früher war alles besser” andichten kann, weil House seit Jahren in ist.
Dezember 22nd, 2015 at 13:04
Mir leuchtet noch immer nicht ein, wo die Logik ist, Begriffe nicht zu verwenden, weil sie häufig zutreffend benutzt werden. “Wasser ist nass” ist auch kein Narrativ.
Dezember 22nd, 2015 at 13:05
OT: Rechnungshof und SpOn haben knallhart recherchiert:
“Es ist eine ungewöhnlich scharfe Rüge: Der Bundesrechnungshof wirft den Jobcentern vor, Fördermittel für die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen in zweifelhafte Maßnahmen zu stecken. Die Kosten trägt am Ende der Steuerzahler.”
Nee, getz hör’ ma auf, doo!
Dezember 23rd, 2015 at 23:02
@ flatter (19)
Es wirkt nur ein bisschen komisch, da immer wieder verwendete gleiche Parolen Individualität zum Verschwimmen bringen.
Dezember 23rd, 2015 at 23:08
Ich sehe das aber nicht als “Parole”, wieso auch? Ebenso sehe ich keinen Gewinn darin, “Individualität” zu repräsentieren. Semantisch ist das sowieso m.E. Quark. Ein Begriff bedarf des Zusammenhangs, um ihn mit Sinn anzureichern.
Dezember 24th, 2015 at 17:10
Dann muss ich wohl an meinen Sprachfähigkeiten arbeiten…
Ich kann es auch weniger höflich ausdrücken: Wenn ich an beinahe jeder Ecke von allem, was irgendeine Art von alternativer Presse zu der des Regimes bildet – gewollt oder ungewollt -, den selben Begriffen über den Weg renne, dann entsteht bei mir der gleiche Eindruck wie als wenn ich die großen deutschen Zeitungen und Fernsehkanäle miteinander vergleiche und am Ende mir dabei die Frage stelle: Schreiben überhaupt verschiedene Personen, was in diesen Medien vorkommt, oder kommt das alles aus der selben Redaktion?
“Individualität” bedeutet nicht nur etwas negatives. Es bedeutet nicht nur die Erbsenzählerei westlicher Kultur oder das, was der Neoliberalismus aus ihr gemacht hat; es bedeutet auch “jemand hat seinen eigenen Kopf”. Und “ein eigener Kopf bedeutet” in dieser Beziehung, für jeden wahrnehmbar (d. h. es ist möglich, es logisch zu erkennen), so etwas wie “wir denken ähnlich, aber nicht weil es uns jemand befiehlt, sondern weil wir persönlich zu ähnlichen Ergebnissen kommen”.
Von Natur aus sind Menschen sich doch nicht so ähnlich, dass sie dauernd automatisch die selben Floskeln benutzen. Da ist schon gegenseitige Beeinflussung im Spiel.
Die, die sich Columbine immer noch als großes Vorbild nehmen, reden auch weniger in ihrer eigenen Rhetorik als in der ihrer großen “Vorbilder” – erstens, weil es junge Leute sind, zweitens, weil sie eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe suchen, und drittens, weil sie sich in deren Ausdrucksform von Ausgestoßen-sein wiederfinden und deswegen meinen, sie müssten sich so geben. Am Ende ist es aber nichts weiter, als sich in etwas hineinzusteigern. Die Ausdrucksformen eines anderen annehmen und seine unvollendeten Kriege weiterführen. Ohne Sinn und Verstand.
Auf der anderen Seite propagieren sie “Individualität” und wie wenig sie wie alle anderen sein wollen.
Wenn man sich allein diese Details ansieht, dann ist es eine Farce.
Genauso wie Individualität nicht davon kommt, dass ich anderer Leute Habitus und Fehden zu meinen eigenen mache, genauso wenig kommt Einigkeit davon, dass mich alle mehr oder weniger mit den selben auffälligen Schlagworten konfrontieren.
Selbst der Anschein von “wir sind da alle selbstständig drauf gekommen” beinhaltet eine gewisse Variation, weil Menschen so unterschiedlich sind.
Dezember 24th, 2015 at 17:31
Ich werde auch nach dieser versuchten Argumentation nichts daran ändern, etwas als zB. “rot” zu bezeichnen, nur weil Du damit vielleicht andere Assoziationen verbindest, als ich :P
Dezember 24th, 2015 at 23:02
@ Wat (24)
Es wär immer allein schon ein Gewinn, wenn solcherlei irgendjemand nur als “Resonanz” aufnimmt…
Dezember 25th, 2015 at 00:22
Meine Fresse, die besprochenen Begriffe stammen aus der Antike und benennen präzise Herrschaftstechniken. Da gibt es nichts zu diskutieren. Amen.