In den Kommentaren kamen wir jüngst zu dem Problem, dass eine Art Privatisierung von Schuld bzw. (Eigen-)Verantwortung durch den Staat stattfindet. Das heißt konkret, dass systemisch bedingte Vorgänge zur Schuld Einzelner umgedeutet werden. Je weniger Handlungsspielraum die ‘Freien’, die Bürger noch haben, desto mehr wird ihnen aufgebürdet, jede Fehlfunktion in ihrer Wirtschaftsbiographie wird ihnen als persönliche Schuld untergejubelt, bis hin zu strafrechtlichen Konsequenzen. Wohlgemerkt: in Fällen, in denen sie sich dem Zwang beugen, unter dem sie im System stehen.
Wie schon gelegentlich hier angemerkt, ist der Sport immer wieder für eine Illustration politischer Vorgänge gut. Diesmal habe ich ein besonders drastisches Beispiel, wo nämlich Sportler unmittelbar zu Kriminellen gemacht werden, wenn sie sich dem Leistungsdruck beugen bzw. von den reichhaltigen Angeboten ihrer ‘Arbeitgeber’ Gebrauch machen, ihren Körper fit zu halten. Es geht wieder einmal um Doping. Dazu liegt ein kabarettreifer Referentenentwurf des Justizministeriums vor. Der nimmt sich die Muße, in epischer Breite Ideologie zu zementieren anstatt das Strafrecht auf Straftaten zu beschränken:
Dem Deutschen Volkssporte
“Der Sport hat in Deutschland herausragende gesellschaftliche Bedeutung. Er verkörpert positive Werte wie Erhaltung der Gesundheit, Leistungsbereitschaft, Fairness und Teamgeist. Er schafft Vorbilder für junge Menschen und ist durch die Sportlerinnen und Sportler mit ihren Spitzenleistungen zugleich Aushängeschild für Deutschland in der Welt. Bund, Länder und Kommunen unterstützen ihn deshalb umfangreich mit öffentlichen Mitteln. Daneben ist der Sport auch ein erheblicher Wirtschaftsfaktor.Vor diesem Hintergrund besteht ein erhebliches öffentliches Interesse daran, den Sport vor negativen Einflüssen und Entwicklungen zu bewahren.”
Da kann man sich die Kopfhaut gar nicht wund genug kratzen. Ein romantisches Bild von Werten und ihrer Vermittlung, Leistungsideologie, nationalistisch-außenpolitischer Funktion des Sports (“Aushängeschild für Deutschland in der Welt”!) im vermeintlichen Einklang mit wirtschaftlichen Interessen. Das also sei zu schützen – und zwar durch strafrechtliche Konsequenzen für Sportler.
In einem stilistisch holprigen Artikel, der traurigerweise ebenfalls zu kruden Vorstellungen persönlicher Entscheidungsfreiheit kommt (“Jeder Sportler muss für sich selber die ethische Entscheidung treffen, ob er Mittel nimmt oder nicht.“) zeigt der “Freitag” juristische Probleme auf, die damit verbunden wären. Allein diese machen den Gesetzentwurf schon zur Farce und sind ein weiterer Tritt gegen rechtsstaatliche Prinzipien.
Du bist Deutschland schuld
Was aber schwerer wiegt, ist eine ausgesprochen politisch-ideologische Begründung für einen schweren Eingriff ins Strafrecht. Kaum nötig zu betonen, dass die schnöde Wirklichkeit hier außen vor bleiben muss. Aus dem Radsport wissen wir, dass ein Konglomerat aus Sponsoren, Veranstaltern und sogenannten “Teams” die Sportler nicht nur mit Dopingmitteln versorgt, sondern dass es Berufssportlern unmöglich ist, im bestehenden System ihren Job zu machen, wenn sie nicht dopen. Das ist in anderen Sportarten, vermutlich im gesamten Leistungssport, genau so.
Nicht nur, dass also die wirtschaftliche Grundlage der Sportler/innen jederzeit kollabieren kann, wenn sie überführt werden, weil sie tun, was alle tun. Künftig sollen sie dafür in den Knast wandern. Weil, siehe oben, sie dann eine Schande sind für “für Deutschland in der Welt”. Weil die Einzelnen in ihrer Eigenverantwortung Fairness, Teamgeist und Leistung zu verkörpern haben, ganz gleich wie unfair, gnadenlos und verpfuscht sich das Geschacher gestaltet, in dessen Nahrungskette sie ganz am Ende stehen. Man muss doch nur die Sportler zur Verantwortung (er)ziehen, dann wird alles besser. Ja sicher!
November 24th, 2014 at 18:00
Was soll auch Anderes dabei heraus kommen, wenn ein Organismus mit biologisch vorgegebenen Grenzen wie der menschliche Körper “marktkonform” umgearbeitet werden muss?
November 24th, 2014 at 18:13
Es ist ein schlechter Witz, wenn gleichzeitig einerseits im Wolken-Kukucksheim des Innenministeriums Medaillen-Zielvorgaben gemacht werden, deren Nichterreichen für die Sportler des jeweiligen Teil-Verbandes den Absturz in die Armut (ausbleibende obwohl für die Ausübung des Sports zwingend notwendige Förderung) bedeutet, andererseits im Justizministerium Sportler, die diese Vorgaben auch dann zu erfüllen suchen, wenn das nur unter Einbeziehung der Methoden der Gegner möglich ist, kriminalisiert werden.
Jeder, der nicht völlig verblödet ist, weiß, dass z. B. Pyrenäen-Etappen ohne “unterstützende medizinische Maßnahmen” für die Sieger in der Form, wie sie heute gefahren werden, physiologisch gar nicht leistbar sind. Dennoch wird weiter das blödsinnige Bild des “sportlichen Übermenschen” gemalt, der nur durch Fleiß sein Ziel erreicht – und damit werden Jugendliche, die jenen “Übermenschen” nacheifern wollen, in die Arme der Dopingmafia getrieben, und gezwungen sich selbst zu verachten, weil sie es nicht schaffen wie jene (bloß angeblich) “sauber” zu bleiben.
Man sollte den Tatsachen ins Auge sehen: Spitzensport ist auf dem heutigen Niveau (zumindest in der Breite) ohne “Hilfsmittel” unmöglich. Also wäre es auch nur konsequent, Doping freizugeben, statt es mit hahnebüchenen “Argumenten” zu kriminalisieren. Alternativ könnte man natürlich auch hintere Plätze tatsächlich “sauber” gebliebener Sportler einfach akzeptieren… (Okay. Ich habe nur Spaß gemacht.)
November 24th, 2014 at 18:25
wer das Politbüro für doof gehalten hat, darf sich hier an ganz neue Dimensionen gewöhnen.
November 24th, 2014 at 21:34
“Es gibt grausame Experimente mit Ratten und Hunden…”
Ach ne, das war ja der vorherige Text. Passt hier aber auch, ist nämlich ein ganz ähnlicher Versuchsaufbau. Bin gespannt, wann der erste Sportler wahnsinnig wird.
November 24th, 2014 at 21:54
War doch schon….sind wir nicht alle ein wenig Emke?
November 24th, 2014 at 22:48
Der war ja nicht wahnsinnig. Oder doch? Keine Ahnung, Sport liegt mir fern. Aber Selbstmord und Wahnsinn gehen nicht zwingend Hand in Hand. Oder doch?
November 24th, 2014 at 22:52
Für den normalen Deutschen sind Depris nichts anderes als Wahnsinn.
November 25th, 2014 at 09:20
Spätestens wenn bei der näxten olympischen Spielen Deutschland im Medalljenspiegel hinter Nordkorea rutscht hat sich die Sache erledigt. Der nazionale Chauvinismus hat bisher immer gesiegt.
November 25th, 2014 at 11:30
In der TAZ fordert heute wieder so ein Depp “lebenslängliche Sperren für Ersttäter”. Sicher ein CDU-Wähler, jener Schlag von Vollidioten, denen die Todesstrafe nicht hart genug ist. Übrigens waren die meisten Prominenten, von denen ich so einen Quatsch gehört habe, selber gedopt, wie sich dann später herausgestellt hat. Auch das ein Phänomen: Du bist gezwungen, in der Bigotterietombola das ganz große Rad zhu drehen, wenn du nicht auffallen willst. Das ist alles so pervers wie sonst nur soziale Marktwirschaft®.
November 25th, 2014 at 11:42
OT: Facebookuser verlieren den Verstand unmittelbar nach Anlegen eines Accounts. Kommt hin.
November 25th, 2014 at 11:48
Wegen jahrestage, novembertage und von wegen Emke, soviel korrektur muss sein: Enke, Robert Enke +10.11.2009, vom kleinen hsv. Hier lautet das thema jedoch – ohne doping – depression und da war Robert Enke wohl der bekannteste fall. Andere “fälle”: Andreas Biermann und Sebastian Deisler.
Das thema “leistungsverbrecher” ist, abgesehen von der heuchelei, ein anderes und da trifft flatter den punkt: “die schnöde wirklichkeit muss immer außen vor bleiben.”
Stellt sich der von publikum und medien bejubelte, und fortan erwartete und geforderte, erfolg ein, wird – staatlich gefördertes und erwartetes/verlangtes, wiewohl geleugnetes – doping vergessen und erst dann wieder aktuell, wenn ein sportler so “blöd” war sich erwischen zu lassen oder des dopings wegen ganz andere “konsequenzen” zu tragen hat. Schon da wurde ein `systemisch bedingter vorgang zur schuld einer einzelnen umgedeutet´. Jetzt soll das erwartete, verlangte und geförderte auch noch kriminalisiert werden, wenn man bei trainingsproben oder im wettkampf erwischt wird, obwohl “sie tun, was alle tun.”
“Die schnöde wirklichkeit muss immer außen vor bleiben”, da gibt es ganz andere und “wichtigere” bereiche als den sport, also warum sollte sie ausgerechnet beim thema strafrechtliche konsequenzen von doping interessieren, wenn es doch, wie immer, um “größeres” geht, um ruhm, ehre, volk, nation, doitschland, nationalhymne, das ansehen in der welt und nicht zu vergessen wirtschaft, geld (ja, auch für den sportler, neben medialem ruhm und ehre), profit, was interessiert da ein “schnödes” sportler(menschen)leben, das für das system geopfert wird, ausgelutscht, verarscht, nicht mehr gebraucht und weggeschmissen und bald auch noch (gefängnis)bestraft, weil: selbst schuld. Nur sportler, andere systemische “selbst-schuld-opfer” wurden noch gar nicht erwähnt – aber ja, “der sport ist immer wieder für eine illustration politischer vorgänge gut”.
Wenn menschen dieses “selbst schuld” verinnerlichen, beginnt das ende alles sozialen und neoliberale politik nach Hayek erreicht ihr ziel: “die auflösung kollektiver sozialer strukturen”, Thatchers “there is no such thing as society” wird zur wirklichkeit.
Peinharts satz, jetzt nicht im sinne von law:-), passt schon: “der Staat ‘privatisiert’ das soziale und überführt es in schuld” – “Shit just gets real.”
November 25th, 2014 at 11:52
Die ersten EPO-Toten gab es bereits Ende der 80er/ Anfang der 90er: Johannes Draaijer, Jef Lahaye, Birgit Dressel…der erste Nachweis war dann erst 10 Jahre später möglich, mal sehen wie “sauber” der Sport der letzten 10 Jahre war…
Interessant dazu:
http://www.cyclingnews.com/features/a-history-on-the-use-of-blood-transfusions-in-cycling
http://www.cyclingnews.com/features/a-history-on-blood-transfusions-in-cycling-part-2
Heute geht das alles ohne…
November 25th, 2014 at 12:24
Von EPO-Toten habe ich noch nie etwas gehört. Zur Geschichte: EPO wurde 1989 eingeführt und ist seit Mitte der 90er im Radsport verbreitet. Dressel starb 1987 an einem Medikamentencocktail, zu dem u.a. Anabolika gehörten. Eine völlig andere Piste.
EPO ist extrem wirksam und ebenso verbreitet, und im Gegensatz zu vielen anderen Mitteln, die quasi schon immer genommen werden, ist davon noch niemand nachweislich tot vom Rad gefallen, Es wäre also völlig falsch, EPO zu verteufeln.
Wenn du dich einmal in Radsportforen tummelst, wirst du binnen kürzerster Zeit ein kleines Pharmakologiestudium absolvieren, wenngleich die Forschung dort leider ohne kontrollierende Lehre vonstatten geht. Ich rede hier von Freizeitsportlern, nicht von Profis.
Ich plädiere deshalb seit Jahren für eine Whitelist kontrolliert verabreichter effizienter Dopingmittel. Man könnte meinetwegen auch gern erst mal den Kapitalismus abschaffen, aber das ist noch hoffnungsloser.
November 25th, 2014 at 13:05
Meinst Du das alles ernst? :-0
November 25th, 2014 at 13:11
Yip.
November 27th, 2014 at 20:33
Problem gelöst!
November 28th, 2014 at 10:21
the names have been changed to protect the innocent.
Dezember 3rd, 2014 at 03:20
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