Vernunft, eine psychische Störung
Posted by flatter under sozialzeugs , theorie[17] Comments
14. Nov 2020 20:27
Dass Vernunft und die ‘Kraft des Arguments’ nicht allzuweit tragen, haben wir hier schon ausgiebig diskutiert. Ich gehe aber noch einen Schritt weiter, um dann den hilflosen Versuch zu machen, vielleicht wieder zwei Schritte zurück zu machen.
Die Erfahrung – beinahe alle Erfahrung – mit Diskussionen zeigt, dass es nicht darum geht, einen Sachverhalt gemeinsam möglichst genau zu beschreiben und zu richtigen Schlüssen zu kommen. Vielmehr ist zu beobachten, dass Diskutanten stets mit allen Mitteln – wider die Vernunft – ihren eingangs erklärten Standpunkt verteidigen. Selbst, wenn dieser auf vielen Ebenen widerlegt wird, ändern sie ihn nicht. Im Gegenteil: Je besser das Argument der Gegenseite, desto eher fühlt man sich davon beleidigt.
Daher wehrt man sich umso heftiger, je näher man der Erkenntnis kommt, dass man falsch liegt. Die Gründe dafür sind vielschichtig und unterschiedlich, darauf will ich im Einzelnen hier nicht eingehen. Festhalten lässt sich aber, dass gemeinhin das Ideal einer Vernunft, die sich auf die Sache bezieht und nach Wahrheit strebt, von Diskutanten weit verfehlt wird. Das liegt m.E. nicht (nur) daran, dass sie es nicht anders wollen, sondern daran, dass sie es nicht besser können.
Anpassen, überleben
Um als Mensch, dessen Fokus stets die bestmögliche Anpassung an eine Umwelt ist, nach den Regeln der Vernunft zu denken (und ggf. zu handeln, sei es auch nur kurzfristig), muss man die Instanz ‘Verstand’ nämlich psychisch abspalten. Es ist eine Art Störung – vermutlich wird auch deshalb ‘Nerdism’ mit Autismus assoziiert. Im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich erscheint das schlimmstenfalls exotisch, denn es kann einem egal sein, welche Zahl oder Formel am Ende herauskommt.
Es ist aber ein ganz anderer Sport, sich als Person mit ihren Erfahrungen völlig zurück zu nehmen und quasi neutral zu erörtern, was richtig und falsch ist, wenn vom Ergebnis das eigene Wohlergehen abhängt. Mit diesem Ansatz fällt man aus der Natur und spaltet jedes Eigeninteresse von der Erkenntnisproduktion ab. Das ist unter Evolutionsgesichtspunkten dumm, andererseits aber die einzige Möglichkeit, sich in komplexen Systemen zu orientieren.
Vereinfacht: Du hast die Wahl, klüger zu werden oder zu überleben. In günstigen Situationen kann beides funktionieren, aber die Anpassungsleistung war stets wichtiger als die Möglichkeit von Erkenntnis. Wo diese nicht unmittelbar nützlich war, war sie Zufallsprodukt. Daher ist es ganz natürlich, sich der Vernunft zu verweigern.
Vernunft, zumal praktizierte, ist etwas für Freaks. Es dürften allerdings solche Freaks sein, denen die Zukunft gehört, denn die neue Regel der Evolution, die für komplexe Systeme eben, lautet: “Du wirst überleben, wenn deine Anpassungsleistungen sich auf das System beziehen, an das du dich anpasst.” Was über Jahrmillionen funktioniert hat, versagt in einer Umwelt, die nach anderen Regeln funktioniert – vor allem denen beschleunigter Abläufe.
Wie dumm muss man sein!
Die bislang erfolgreichen Strategien funktionierten vor allem durch den Mechanismus sterben/aussterben vs. überleben. Alle evolutionär erworbenen Strategien sind ein Teil davon, und sie alle sind auch menschliche. Aus dieser Regel fällt zuerst der Verstand, die Fähigkeit, auf Umwegen zum Ziel zu kommen, wobei auch das noch eine Überlebensstrategie ist. Die Vernunft schließlich bezieht sich auf die Regeln des Spiels selbst, entzieht sich der Anpassung an die Situation und verzichtet auf Überlebensstrategien.
Um erkennen zu können, was ist, sind der Vernunft der eigene Tod und das Überleben sprichwörtlich gleichgültig. Wie dumm muss ein Wesen sein, dass der Vernunft folgt! Es ist also kein Wunder, dass es so gar nicht gelingen will, jemandem Vernunft aufzuzwingen. Argumentieren ist deshalb (jenseits des Nerdism) ein Ritual.
Dass sich durch Vernunft gewonnene Erkenntnisse dennoch durchsetzen können, liegt vor allem an ihrer Vermittlung durch Autoritäten. Nicht der Inhalt wird dabei vermittelt, sondern die Gültigkeit der Erkenntnis. Eine nachgerade unverwüstliche Überlebensstrategie liegt nach wie vor darin, Autoritäten zu folgen.
November 14th, 2020 at 20:55
Ein ergreifend stiller, melancholisch tiefsinniger Text. Es scheint Alles gesagt. Respekt!
November 14th, 2020 at 22:38
“Keine Herren, keine Sklaven!”
Und dann: “Eine nachgerade unverwüstliche Überlebensstrategie liegt nach wie vor darin, Autoritäten zu folgen.”
Versteh ich nicht.
November 14th, 2020 at 22:58
Das eine ist das Ziel, das andere ein Befund, mit dem man arbeiten muss.
edit: Zudem bedeutet Herrschaft/Sklaverei auch, dass Menschen ein Recht hätten, über andere zu bestimmen, selbst, wenn diese das nicht wollen. Autorität ist nicht gleichbedeutend mit Herrschaft.
November 14th, 2020 at 23:16
Autorität ist nicht gleichbedeutend mit Herrschaft
das postscriptum für obigen text. und autorität setzt ja auch den willen voraus, diese anzuerkennen.
danke für. dolle.
November 15th, 2020 at 09:24
Ich fand es sehr angenehm, dass ich heute Früh zu meinem Morgen-Tee diesen Text lesen durfte.
(Als unbedeutende stille Mitleserin aus dem Österreichischen Ausland wollte ich nur anmerken, dass ich das jetzt richtig gut finde. Auch Hilfreich.)
November 15th, 2020 at 09:32
Guter Text.
Wird die Menschheit der Evolution die notwendige Zeit lassen, den zweifellos vorhandenen Erkenntnissen zu folgen?
November 16th, 2020 at 11:01
Bei tp macht doch einer gerade anonym so eine Marx-Reihe.
Bei Begutachtung der Kommentare der ersten Beiträge hat sich bei mir ein Eindruck breit gemacht, der durch einen Kommentar eines Forumsteilnehmer unter dem letzten Artikel (Trcikel-Down) ganz gut zusammengefasst wird:
“Mein Fazit ist aber, dass Kapitalismus geil ist und auch nie weggehen wird. Wenn die Zeiten härter werden suchen wir uns lieber den nächsten Hitler, um den Taugenichtsen und Volksfeinden Beine zu machen.
Was anders erscheint mir mit dem vorliegenden Menschenmaterial nicht möglich.
Wie die Leute sich hier auf Freiheit und den Zwang zum Geldverdienen einen runterholen ist der Wahnsinn. Das ständige tertium non datur zwischen “Kapitalismus ist schon scheiße” aber als Alternative haben wir ja nur “Stalin-Planwirtschaft mit hunderten Millionen polititischen Ermordeten” wird reflexartig runtergebetet, hoffentlich gab es wenigstens eine Belohnung. Wie sollen die sich selbst befreien? Die wüssten gar nicht wovon und das kann man ihnen offensichtlich auch nicht beibringen.
Das müssen alles Menschen sein, die es im Kapitalismus “geschafft haben”. Darauf sind sie ganz stolz, weil sie wissen dass es auch anders ausgehen kann und für viele auch die Lebensrealität ist. Daran will man aber nichts ändern und blendet den Teil lieber aus.”
November 16th, 2020 at 12:08
Man fragt sich, was Parlamentarier und ihre Zulieferer so beruflich machen. Irgendwas mit Gesetzen wohl, aber nix Qualifiziertes.
November 16th, 2020 at 13:00
In diesem Zusammenhang der Hinweis auf den aktuellen Artikel von Suitbert Cechura. Wichtig wäre ua eben die Erkenntnis, dass man Rechte nicht etwa ‘hat’, sondern dass sie einem gewährt werden von einer Instanz, die letztlich mit einer umfassenden Macht über das eigene Leben, die Freiheit und alles andere ausgestattet ist. Das kommt eben dabei raus, wenn man ‘Herrschaft’ zulässt und sie auch noch alle vier Jahre re-legitimiert…
November 16th, 2020 at 14:29
@ Guest:
Ausgebeutete im Kapitalismus so-Hurra, Hurra der Kapitalismus ist da!
Kommunismus? Buuuuuh!
Man kann das durchaus als Stockholm Syndrom bezeichnen.
November 16th, 2020 at 15:24
Zum RCEP Abkommen weiß der Kommentar auf TS folgendes zu berichten:
“Und noch ein Punkt ist wichtig: Letztlich wird mit dem Pakt eine Freihandelszone unter chinesischen Vorzeichen geschaffen: Arbeitnehmerrechte, freie Gewerkschaften, Umweltstandards – all das bleibt außen vor. China dürfte da entsprechend Druck gemacht haben.
Ganz anders hätte das ausgesehen, wenn die Freihandelszone TPP – die transpazifische Partnerschaft – zustande gekommen wäre.”
Das ist ja nicht mal mehr für blödverkaufen, sondern nur einfach dummdreist.
November 16th, 2020 at 15:26
Es ist die Anpassung an das – vermeintlich – unvermeidliche, wie ja auch schon im Opener angesprochen. Und spätestens dadurch, dass das die meisten zumindest von den anderen meinen – eben grad auch die, die selbst anderes meinen – wird’s dann auch zur selbsterfüllenden und also unvermeidlich.
November 16th, 2020 at 16:15
Wenn man Varoufakis glaubt, sind die Chinesen sehr viel zugänglicher in ihrer Hegemonialzone als z.B. der Reichsprotektor und seine ‘Troika’.
November 16th, 2020 at 16:42
Hut ab. Genau so ist es! Schopenhauer hat dafür ca 1000 Seiten gebraucht: Die Welt als Wille und Vorstellung.
November 16th, 2020 at 17:25
Nur dass er das, was ich “Freak” und “Abspaltung” nenne, als “Genie” gefeiert hat.
November 16th, 2020 at 22:14
Apropos Varoufakis.
November 16th, 2020 at 22:52
Und hier noch was über Wahlfälschung in den USA. Hat trotzdem nicht gereicht.