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Dass Vernunft und die ‘Kraft des Arguments’ nicht allzuweit tragen, haben wir hier schon ausgiebig diskutiert. Ich gehe aber noch einen Schritt weiter, um dann den hilflosen Versuch zu machen, vielleicht wieder zwei Schritte zurück zu machen.

Die Erfahrung – beinahe alle Erfahrung – mit Diskussionen zeigt, dass es nicht darum geht, einen Sachverhalt gemeinsam möglichst genau zu beschreiben und zu richtigen Schlüssen zu kommen. Vielmehr ist zu beobachten, dass Diskutanten stets mit allen Mitteln – wider die Vernunft – ihren eingangs erklärten Standpunkt verteidigen. Selbst, wenn dieser auf vielen Ebenen widerlegt wird, ändern sie ihn nicht. Im Gegenteil: Je besser das Argument der Gegenseite, desto eher fühlt man sich davon beleidigt.

Daher wehrt man sich umso heftiger, je näher man der Erkenntnis kommt, dass man falsch liegt. Die Gründe dafür sind vielschichtig und unterschiedlich, darauf will ich im Einzelnen hier nicht eingehen. Festhalten lässt sich aber, dass gemeinhin das Ideal einer Vernunft, die sich auf die Sache bezieht und nach Wahrheit strebt, von Diskutanten weit verfehlt wird. Das liegt m.E. nicht (nur) daran, dass sie es nicht anders wollen, sondern daran, dass sie es nicht besser können.

Anpassen, überleben

Um als Mensch, dessen Fokus stets die bestmögliche Anpassung an eine Umwelt ist, nach den Regeln der Vernunft zu denken (und ggf. zu handeln, sei es auch nur kurzfristig), muss man die Instanz ‘Verstand’ nämlich psychisch abspalten. Es ist eine Art Störung – vermutlich wird auch deshalb ‘Nerdism’ mit Autismus assoziiert. Im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich erscheint das schlimmstenfalls exotisch, denn es kann einem egal sein, welche Zahl oder Formel am Ende herauskommt.

Es ist aber ein ganz anderer Sport, sich als Person mit ihren Erfahrungen völlig zurück zu nehmen und quasi neutral zu erörtern, was richtig und falsch ist, wenn vom Ergebnis das eigene Wohlergehen abhängt. Mit diesem Ansatz fällt man aus der Natur und spaltet jedes Eigeninteresse von der Erkenntnisproduktion ab. Das ist unter Evolutionsgesichtspunkten dumm, andererseits aber die einzige Möglichkeit, sich in komplexen Systemen zu orientieren.

Vereinfacht: Du hast die Wahl, klüger zu werden oder zu überleben. In günstigen Situationen kann beides funktionieren, aber die Anpassungsleistung war stets wichtiger als die Möglichkeit von Erkenntnis. Wo diese nicht unmittelbar nützlich war, war sie Zufallsprodukt. Daher ist es ganz natürlich, sich der Vernunft zu verweigern.

Vernunft, zumal praktizierte, ist etwas für Freaks. Es dürften allerdings solche Freaks sein, denen die Zukunft gehört, denn die neue Regel der Evolution, die für komplexe Systeme eben, lautet: “Du wirst überleben, wenn deine Anpassungsleistungen sich auf das System beziehen, an das du dich anpasst.” Was über Jahrmillionen funktioniert hat, versagt in einer Umwelt, die nach anderen Regeln funktioniert – vor allem denen beschleunigter Abläufe.

Wie dumm muss man sein!

Die bislang erfolgreichen Strategien funktionierten vor allem durch den Mechanismus sterben/aussterben vs. überleben. Alle evolutionär erworbenen Strategien sind ein Teil davon, und sie alle sind auch menschliche. Aus dieser Regel fällt zuerst der Verstand, die Fähigkeit, auf Umwegen zum Ziel zu kommen, wobei auch das noch eine Überlebensstrategie ist. Die Vernunft schließlich bezieht sich auf die Regeln des Spiels selbst, entzieht sich der Anpassung an die Situation und verzichtet auf Überlebensstrategien.

Um erkennen zu können, was ist, sind der Vernunft der eigene Tod und das Überleben sprichwörtlich gleichgültig. Wie dumm muss ein Wesen sein, dass der Vernunft folgt! Es ist also kein Wunder, dass es so gar nicht gelingen will, jemandem Vernunft aufzuzwingen. Argumentieren ist deshalb (jenseits des Nerdism) ein Ritual.

Dass sich durch Vernunft gewonnene Erkenntnisse dennoch durchsetzen können, liegt vor allem an ihrer Vermittlung durch Autoritäten. Nicht der Inhalt wird dabei vermittelt, sondern die Gültigkeit der Erkenntnis. Eine nachgerade unverwüstliche Überlebensstrategie liegt nach wie vor darin, Autoritäten zu folgen.