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Quelle: Pixabay

Heute ist der Tag. Ich hatte immer geleugnet, dass es so kommen könnte, aber das Leben korrigiert einen immer wieder auf brutale Weise. Ich wurde also heute Morgen wach und wusste nicht, wo ich war. Der Verdacht, der mich sogleich beschlich, sollte sich nur zu bald bewahrheiten, aber ganz anders, als ich gedacht hatte. Nun, der erste Befund traf jedenfalls zu: Ich bin alt.

Ich habe gestern nichts ‘getrunken’ und auch sonst keine Drogen verköstigt, ein klassischer Filmriss fiel also aus. Warum aber konnte ich mich nicht an diese Wohnung erinnern? Es sah derweil aus, als läge ich durchaus in meinem eigenen Bett. Ein blick aus dem Fenster bestätigte gar, dass ich zu Hause war. Nur sah alles anders aus.

Ich kenne mich mit freidrehenden Neurotransmittern und ihren Begleiterscheinungen gut aus, um nicht zu sagen, ich bin sowohl in Psychologie als auch in Psychiatrie recht bewandert, darum glaubte ich auch nicht an eine plötzlich aufgetauchte Psychose oder eine bizarre Form der Amnesie. Nein, das alles war real.

Reichtum

Seidene Bettwäsche, teure Tapeten, dicke Teppiche, Gemälde an den Wänden. Ich taperte ins Badezimmer, den Raum, den ich “Problemzone B” zu nennen pflegte, und auch dort war der Luxus eingekehrt. Blitzblanke Emaille, ein schönes neues Waschbecken, Designarmaturen und neue geschmackvolle Fliesen, wo zuvor das braune Zeugs aus den Siebzigern meine morgendliche Laune verhagelt hatte.

Ich schaute in mein Portemonnaie, das, wie ich inzwischen erwartete, dick mit großen Scheinen gefüllt war. Anstatt des Fahrzeugscheins für meinen schreddeligen Renault steckte dort einer von einem 7er BMW. Ich setze mich auf den Wannenrand und dachte nach. Da die normalen Erklärungen hier nicht weiterführten, musste ich anders denken. Das zuvor für unmöglich Erklärte konnte einzig die Wahrheit bergen.

Ein langer Blick in den Spiegel. Bislang habe ich mir “für dein Alter”- Sätze suggeriert, aber der Anblick belehrte mich eines Besseren. Ich bin alt. Nicht mehr zu leugnen. Das da sieht nicht mehr gut aus. Es fällt aus jeder Kategorie, die noch mit “Schönheit” in Verbindung gebracht werden kann, und meine kaputten Knochen tun auch wieder weh. Immerhin habe ich Schiller gelesen und weiß daher, dass ab sofort “Würde” gefragt ist aka “Ruhe im Leiden”.

Das Undenkbare

Es musste eine Verbindung geben zwischen den Ereignissen und der Erkenntnis. In Kombination mit den bislang verbotenen Gedanken fiel es mir wie Schuppen aus dem schütteren Haar: Ich bin alt. Ich bin weiß. Na klar! Dann bin ich auch privilegiert. Endlich! Nie wieder verzweifelt einen Job suchen, den ich gar nicht machen will. Sich nie mehr krumm buckeln, damit die Kinder das Nötigste haben. Vorbei die Zeiten – alleinerziehend und doppelt jobbend in einer zugigen Butze mit Kohleofen.

Ich habe es geschafft! Keine Ahnung wie, denn gestern dachte ich noch, ich würde nie eine Rente über Sozialhilfeniveau bekommen und sowieso bald aus meiner Wohnung fliegen, weil die Erbengemeinschaft just die Immobilie hat bewerten lassen, aus der sich locker das Doppelte rausquetschen lässt. Aber so ist das halt: Egal, aus welchem Slum du kommst und was du erlebt hast; im Alter bist du automatisch privilegiert. Geil; ich werde als Erstes dann mal in den Puff gehen.