Internet-Historiker
Posted by flatter under kollateralschaden , netz[18] Comments
17. Jan 2018 15:20
Es fehlt eine Wissenschaft, eine ganze. Ich habe mich gefragt, was etwa von Internet der 90er Jahre heute noch übrig ist. Die Frage ist nicht einfach, schon gar nicht beantwortet mit Schlaumeiereien wie “Es gibt doch die Wayback Machine!”. Eine passende Meldung gab es neulich: Die Bibliothek des US-Kongresses hat das Archivieren von Twitter eingestellt. Es werden einfach zu viele Daten.
Der unter dem Bingobuzzword “Big Data” gehandelte Vorgang, riesige Datenmengen nach schlauen Algorithmen zu filtern, hilft hier nur bedingt bis gar nicht. Man stelle sich vor, in vierzig oder hundertvierzig Jahren möchte sich jemand darüber informieren, was in einem der wichtigsten Medien der Menschheit kommuniziert wurde. Autsch. Gibt es überhaupt schon Ansätze für eine Systematik, nach der man heute Daten archivieren kann? Ressourcen dafür?
Datum transit, scripta manent
Während wir total überwacht werden, dürfte es schon (nahezu) unmöglich sein, ein ungefähres Bild, eine Karte, zu zeichnen von der Vernetzung Mitte der Neunziger. Ist noch etwas davon zu bergen? Wir reden hier von einer Zeit, in der solche Verbindungen noch übersichtlich waren. Wie ist es heute, in einer Zeit, in der Milliarden Menschen das Netz nutzen? Ist es Fluch oder Segen, dass die meisten Verbindungen inzwischen über Datenkraken wie Google und Facebook stattfinden? Gehören denen diese Daten wirklich? Dann haben sie nicht zuletzt die Hand an der Klospülung der Zeitgeschichte.
Während diese Ausbeuter unserer Lebens- und Kommunikationsdaten also weltumspannende Datendiktaturen errichtet haben, müsste sich eigentlich wer darum kümmern, wie man Informationen anders filtert als zu dem Zweck, Scheißturnschuhe zu verhökern. Dabei käme es unter anderem darauf an, exemplarisch Verbindungen, deren Entstehen und Vergehen, aufzuzeichnen und aufzuarbeiten. Kommunikationen müssten analysiert und der Nachwelt überliefert werden im Rahmen ihres Zustandekommens. Die große Kunst des Auslassens muss dabei erst noch entwickelt werden.
Archivieren heißt demnach eben nicht mehr, möglichst viel zu sammeln und zu bewahren, sondern schon vorweg eine Auswahl zu treffen in der Absicht, noch irgendwie historische Forschung für spätere Zeiten zu ermöglichen. Allein die Form, in der Daten ‘gespeichert’ werden sollen, ist ein eigenes Problem der Geschichtswissenschaft. Es ist kein Witz, dass Ausdrucken tatsächlich nicht die Dümmste Idee sein wird. Schriften haben Jahrtausende überlebt; elektronische Daten sind nach einem Jahrzehnt oft unrettbar verloren. Man stelle sich vor, es blieben sonst nur die Printprodukte der Verlagsmedien; die Historiker der Nachwelt würden sich doch scharenweise totlachen!
Januar 17th, 2018 at 16:37
Der gute @hackr schreibt auf Twitter (wo sonst?) gelegentlich Tweets “für Internet-Archäologen” mit einer Rückschau, was vor jeweils so 10 Jahren das große Ding war; zurzeit allerdings aus Gründen halbgesperrt und daher nicht sinnvoll durchsuchbar, schade eigentlich.
Knoll war mal ein Thema, habe ich dort erfahren. Verrückt.
Januar 17th, 2018 at 16:51
Die Historiker der Nachwelt werden sich sowieso totlachen.
Januar 17th, 2018 at 17:02
@flatter:
Mach dir über deine “Nachwelt” keinen Kopf.
Was wert ist, aufbewahrt zu werden, darüber entscheiden nicht die Schreibenden, sondern die Lesenden. Den Rest erledigen Zufälle.
Januar 17th, 2018 at 17:05
Wenn es nix mehr zu lesen gibt, entscheidet niemand.
Januar 17th, 2018 at 17:08
@tux: Was ist ein Knoll? Robotik-Knoll?
Januar 17th, 2018 at 17:47
Knoll oder Knol oder so war vor zehn Jahren Googles Alternative zur Wikipedia. Hat super funktioniert.
Januar 17th, 2018 at 18:46
Oh. Never heard of it.
Januar 17th, 2018 at 18:48
Ich glaube, vollständige Archivierung, so unmöglich sie schon für den Zeitraum einer Generation ist, wäre ohnehin irrelevant. Wir haben doch schon heute mehr Information über die Notwendigkeit einer Revolution als der Idee einer Revolution offenbar zuträglich ist.
Januar 17th, 2018 at 21:17
De Knoll jab et nur eimol.
Wie man einen Link setzt, steht hier. Säzzer
Januar 18th, 2018 at 05:48
die zeit zwischen 1995 und 2095 wird von zukünftigen historikern mal als “TheBigVoid” bezeichnet werden.
Januar 18th, 2018 at 07:20
Ich würde eher vermuten spätere Historiker werden sich über den Wahn, jeden Furz archivieren zu wollen, totlachen.
In 2000 Jahre alten Exkrementen finden Historiker heute wichtige Hinweise über das Ernährungsverhalten und typische Erkrankungen der damaligen Zeit.
Sollten wir also nicht auch heute schon vorsorglich all unsere Ausscheidungen für die Nachwelt archivieren? Das wäre doch sicher ein großer Segen für die zukünftige Menschheit, oder?!
Januar 18th, 2018 at 08:39
Für Internet-Historiker und für jeden, der seine Weisheiten jenseits seines Blogs aufbewahren will, ist das Internet-Archiv schon mal ein guter Anfang:
https://archive.org/about/
Ich habe zum Beispiel meine Kapitalkurzfassung dort als Hörbuch archiviert: https://archive.org/details/Marx-Kapital
Mehr solcher Archive wären gut, aber dafür müsste Geld in die Hände genommen werden.
Januar 18th, 2018 at 12:20
ich darf nochmal auf den entscheidenen satz von flatter hinweisen
Es ist kein Witz, dass Ausdrucken tatsächlich nicht die Dümmste Idee sein wird. Schriften haben Jahrtausende überlebt; elektronische Daten sind nach einem Jahrzehnt oft unrettbar verloren.
mal vom energiebedarf, um diese daten elektronisch zu halten, komplett abgesehen. EMPs zb sind keine komplett irrationale bedrohung für die archivierten daten in der fucking cloud. da gehört speziell auch sowas wie archive.org dazu.
Ich würde eher vermuten spätere Historiker werden sich über den Wahn, jeden Furz archivieren zu wollen, totlachen.
eben.
Januar 18th, 2018 at 14:48
OT: ok, das hier ist n ziemlicher knaller; mein schnelles denken macht mich gerade fertig…
(via fefe)
e/ haha, und hier ist der bogen: Ein typisches Merkmal für Machtmenschen aller Jahrhunderte war ihr langes Gedächtnis. Nicht selten war es die Quelle ihrer Macht. Doch in einer Welt, in der sich die Gesamtmenge der weltweiten Daten alle zwei Jahre verdoppelt, ist die Vergangenheit nicht mehr viel wert – und mit ihr die Zukunft. Kaum jemand, der noch Pläne hat.
Januar 18th, 2018 at 17:13
@dkt #13 – Nicht zu unterschätzen ist das Problem der Form, spezieller des Formats. Wenn keine Interpretationsanleitung mehr gegeben werden kann, handelt es sichbei allem ‘Digitalen’ tatsächlich nur um einen einzigen Brei von Nullen und Einsen. Der Inhalt ist verloren, wenn die Form verloren gegangen ist. Das Problem stellt sich zwar grundsätzlich auch bei zB alten Schriften, aber die Reduktion auf nur noch zwei Elemente potenziert es erheblich.
#14 – Wahrlich ein Knaller. Vielen Dank für diesen Wetzstein…
Januar 19th, 2018 at 11:38
OT: Über Siedeln im Weltall, Narrative, Hollywood und Apokalypse. Money Quote: “Manchmal gibt es einen ausgewählten Schwarzen, der dann stirbt.”
Januar 31st, 2018 at 11:26
Witzigerweise sind es die Bibliothekare, die sich mit der Thematik schon seit den 90ern beschäftigen. In D z.b. gibt es die Deutsche Nationalbibliothek, die schon Projekte wie “Webharvesting” oder “Pflichtabgabe für Netzpublikationen” laufen hatte/hat(?). Alles in allem teuer und unmöglich zu schaffen, daher wird – wie es Archivare seit Jahrhunderten wirklich tun – erst ausgewählt und dann archiviert.
Januar 31st, 2018 at 12:19
Danke für den Hinweis. Hier ein Link zur NB.