Ich habe mich zuletzt ein paar Mal aus dem Fenster gelehnt, als es um Sex und seinen -ismus ging. Dabei ging es nicht nur um eine neureligiöse Moralität, die nichts von sich wissen will, sondern im Kern vor allem um das Verhältnis zur Zivilisation. Das Subjekt, das sich Unterwerfende, hat den Deal mit der Zivilisation gemacht: Du schützt mich und ich bin brav. Erst in der Zivilisation droht ihm daher der doppelte Einschlag: Mach dich klein und sie machen dich noch kleiner.
Schutzlos in der Zivilisation – ein wahrer Clusterfuck. Das Subjekt verzichtet auf direkte Gewalt, auf Waffen und deren Anwendung, auf töten, schlagen und beißen. Dafür hat es Rechte. Blöd nur, wenn die ihm nicht gewährt werden und obendrein noch die Antiquität der Strafe verhängt wird, wenn es dann doch blutig zurückschlägt. Das Schlimmste dabei: es weiß nichts mehr davon. Es ist ihm nicht einmal mehr vermittelbar. Es ist sich so entfremdet, dass es nur mehr Funktion der Funktion seiner ‘Gesellschaft’ ist.
Hätschelkinder
Für alles hat es Fachleute: Autowerkstätten, Polizei, Handwerker, Anwälte. Die machen das für mich. Wenn sie es machen, solange sie es machen und wenn ich es mir leisten kann. Alles, was man tun kann, ist mitmachen, worüber man nicht entscheidet, hören, was man nicht versteht und tun, was alle tun. So ist das heutzutage®. Was man darf oder nicht darf, wussten früher die Eltern oder der Pfarrer; heute weiß es die Tagesschau. Die hat auch einen Facebook-Account. Die ‘Mitte’ hört hier, was die Guten tun und was die Bösen.
Wer davon abfällt, steht erst einmal im religiös-sozialen Nichts. In der Folge suchen sich die Ketzer neue Götter; es gibt Privatmoralen für alle und jeden, sogar komplette Weltbilder. Übers Netz ist man ruckzuck unter ‘Vielen’ und darf sich wieder stark fühlen. Es gibt reichlich ‘Gleichgesinnte’, die können ja nicht alle falsch liegen. Dabei transportieren die Teilzeitsekten, die sich so bilden, das verquere Verhältnis zu Moral und Gewalt, das ihnen zweiten Natur wurde. Zwar bricht es zunehmend aus ihnen heraus, eine direkte Konfrontation aber scheuen sie.
Wehrt euch, kauft nicht
Also wird aus dem Dickicht gehetzt, aus dem Hinterhalt getrollt und gedroht. Wir kriegen dich, du Sau! Nichts ist mehr unmöglich, auch der Drecksjude ist wieder dabei – schließlich wurde der von den falschen Propheten des Mainstreams verboten. Die Aggressoren verbreiten mit ihren Lügen Angst und Schrecken, ihre Waffen sind Hetze und Propaganda. Wenn sie damit auffliegen, verstecken sie sich hinter anderen, stapeln Ausreden und sind für nichts verantwortlich. Mit solchen Strategien wehren sie sich gegen das Establishment.
Die Opfer tun dasselbe, nur auf der anderen Seite. Sie berufen sich, sie glauben, sie klagen und erwarten. Schließlich ist das der Kern der Gesellschaft, dass gerechte Entscheidungen auf friedlichem Wege herbeigeführt werden. Es ist halt nur so, dass die Opfer das Unglück einer besonderen Ungerechtigkeit erleiden. Gegen diese kämpfen sie. Mit Anwälten, Petitionen und Öffentlichkeit. In ihrem Namen hängen sich andere dran und trollen zurück. Aber bloß keine Gewalt!
Keine Gewalt?
Ich fürchte, diese Zivilisiertheit ist über jedes Ziel hinaus geschossen. Die Schwachen sind so zivilisiert, dass ihre Angst sie ständig lähmt, doch so tief sie sich auch bücken, sie werden dennoch getroffen. Die Aggressiven nutzen das nach Herzenslust aus und prügeln täglich ein paar Opfer durch. Konsequenzen? Nicht machbar, selbst mit diktatorischen Mitteln, die obendrein noch damit gerechtfertigt werden. Meinung ist gefährlich. Die Gefahr muss eingedämmt werden.
‘Wehrhaft’ nennt sich dann solche ‘Demokratie’, eine monopolisierte Staatsgewalt, die leider die Wurzel ihrer Legitimität ziehen muss. Wo sind hingegen die wehrhaften Bürger? Wo stellen sie sich, begegnen sich und geben sich Grenzen? Ein Mensch, der zurückschlägt, wird selten geschlagen. Wo direkte Gewalt droht, droht kein Troll mehr. Diese Gesellschaft hat ein Gewaltproblem. Wir haben uns so eingehegt, dass wir Gewalt vor uns schützen statt umgekehrt. Wer sich damit auskennt, holt sich daher unbeschwert seine Opfer.
Januar 13th, 2018 at 14:56
So isses. Unn nu?
Januar 13th, 2018 at 15:39
Ich fürchte ja, dass diese ganze ‘Zivilisation’ vor allem auf einer fatal falschen Annahme ruht (oder recht eigentlich eher marodiert), bzw auf einer ganzen Reihe davon, die aber voneinander abhängig sind und sich gegenseitig bedingen. Und rein zufällig steht der Umgang mit Gewalt dabei an einer ganz zentralen Stelle. Ich habe zunehmend das Gefühl, wir nähern uns dabei von zwei Seiten…
Jetzt muss ich aber erstmal meine heutige Konsumarbeit ableisten.
Aber auch das Federvieh kriegt sein Fett schon noch. :p
Januar 14th, 2018 at 09:08
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Januar 14th, 2018 at 12:39
„Schutzlos in der Zivilisation“ das hat was. Vorher war Schutz durch einen Herrn personalisiert, dem man angehörte. Große Herren gaben viel Schutz, kleine Herren wenig. Das gab Hauen und Stechen allzumal.
Die Zivilisation reduzierte die vielen Herren auf einen Einzigen: die Staatsmacht. Das war der Rechtsstaat. Der brachte es dann fertig, Millionen Untertanen gegeneinander in Weltkriegsschlachten zu schicken.
„Das „Untertanen-Subjekt“ verzichtet jedoch nicht auf Gewalt, nur weil die Zahl der Herren reduziert wurde.
Siehe zum Beispiel hier: http://marx-forum.de/Forum/gallery/index.php?image/998-f%C3%BChren-afd-hasspostings-zu-mehr-angriffen-auf-fl%C3%BCchtlinge/
„Der Staat“ schützt uns Untertanen nicht vor Privatgewalt. Hohe Politiker und Funktionäre erhalten Personenschutz, mehr nicht. Strafverfolgung bietet keinen Schutz.
Fakt ist auch, dass jede größere Disco Türsteher und Rausschmeißer anstellt und jedes größeres Unternehmen einen Werkschutz unterhält. Das ist auch Privatgewalt. Andere kaufen Reizgas oder sammeln Schusswaffen.
Ich glaube jedoch nicht, dass Waffen über unsere Zukunft entscheiden. Ich glaube: Wer das E-Werk, die Wasser- und die Lebensmittelversorgung unserer Kommunen in Gang halten kann, diejenigen halten unsere Zukunft in Händen.
Januar 14th, 2018 at 16:00
Habe ich das richtig verstanden?
Abwesenheit von Gewalt.
Nunja aufm Radweg, Straße, in der Familie, aufe Arbeit, am Gartenzaun usw.
Die Ratten kloppen sich, gegenseitig.
Den Buback macht hier keiner mehr, das heißt ankommen.
Januar 14th, 2018 at 17:08
Direkte Gewalt gibt es noch in der Unterschicht, aber auch da ist sie eingebettet in externe Regeln, die tendenziell Brutalität fördern. Da sie illegal ist und keine eigenen Regeln hat, muss sie sich auch vor dem Zugriff des Gesetzes schützen. Daher ist es clever, sie entweder in mafiöse Strukturen einzubetten oder so aufzutreten, dass die Opfer sich nicht trauen, den Staat zu aktivieren.
Januar 14th, 2018 at 20:18
Ich mach’s einfach mal ganz grob: ich halte schon die Annahme, es gebe so etwas wie einen vorkulturellen, vorzivilisatorischen Menschen, für einen fatalen und überaus weitreichenden Irrtum. Erst recht, dass dieser sodann eine quasi unbeleckte ‘Natur’ aufweise, über die man auch noch postive Aussagen treffen könne. Ein solches Wesen gibt es nicht und hat es nie gegeben (die Kaspar Hauser-Fälle mal aussen vor gelassen). Menschliche Kultur ist nachweislich älter als der Homo Sapiens, er hat dieses Merkmal bereits von seinen Vorfahren bzw Vorläufern geerbt. Er hätte ohnehin keine drei Generationen überlebt, wenn seine erstmal ja ‘unzivilisierte’ Natur tatsächlich im ‘Krieg aller gegen alle’ läge.
Der ‘Fehler’ von Leuten wie Thukidides oder, wieder aufgegriffen, von Hobbes etc war dementsprechend, angesichts der von ihnen beobachteten bzw beschriebenen Gewaltexzessen nicht die naheliegende Frage gestellt zu haben, was denn das für eine Scheißkultur sei, wenn sowas dabei rauskomme, sondern sich stattdessen in dieses Märchen einer ‘menschlichen Natur’, die eben egoistisch, raffgierig und gewalttätig sei, zu flüchten.
Diese niederträchtige ‘Natur des Menschen’ bildet seitdem die gängige Rechtfertigung für die Herrschaft des Menschen über den Menschen – eine solche ‘Natur’ müsse natürlich, und natürlich notfalls auch gewaltsam, gezähmt und eben beherrscht werden, und in Ermangelung praktisch tätig werdender ‘Höherer Wesen’ kommt dafür halt auch nur wieder der Mensch selbst in Frage – auch wenn er sich dabei gerne hinter solchen versteckt.
Diese sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Abendlandes ziehende Sichtweise – die mE ganz tief in unseren Mythen, Legenden und ‘Narrativen’ steckt – wäre sozusagen die ‘rechte’ und geschichtlich zweifellos tonangebende. ‘Sündenfall’, ‘Erbsünde’ und andere Modelle, die im Gegenteil die menschliche Natur als grundsätzlich gut, lieb und nett aufassen und die Schuld für all die ‘Auswüchse’ bei einer verkorksten Kultur sehen, mögen damit zwar vielleicht etwas näher an der Wahrheit sein, übernehmen dabei aber auch fatalerweise genau diese eingebildete Dichotomie. Sie sind so gesehen auch nur ein Vexierbild dieses Irrtums.
Dieser ‘alternative’ Strang der Ketzer, Rebellen und Revolutionäre zieht sich ebenfalls durch unsere Geschichte, diese sozusagen ‘linke’ Sichtweise konnte sich aber ausser gelegentlichen Etappensiegen nie wirklich durchsetzen, auch wenn sie dem ‘rechten’ Strang im Laufe der Zeit schon einiges abtrotzen konnte. Dem Christentum mit seiner ausgeprägten Doppelzüngigkeit kommt dabei eine interessante Sonderrolle zu – vom Ansatz und der Figur des Jesus von Nazareth her eher ‘links’ hat es sich praktisch immer auf die rechte Seite geschlagen (so gesehen auch eine Art Vorläufer der Sozialdemokratie…).
Die Dichotomie selbst, der ‘unversöhnliche’ und im Hauptstrang dann eben auch nur gewaltsam zu beherrschende Gegensatz von (eingebildeter) ‘Natur’ und (tatsächlich vorhandener) ‘Kultur’ scheint mir darüber hinaus auch eine Art Blaupause abgegeben zu haben für unseren Umgang mit verschiedensten Arten von ‘Polaritäten’. Statt sie als integrale Bestandteile eines Ganzen zu begreifen, oder als ein Kontinuum zwischen Polen, neigen ‘wir’ offenbar immer eher einem (ausschließenden) Entweder-Oder zu (tertium non datur). ‘Gut’ und ‘Böse’ bieten in dem hier skizzierten Kontext nur ein besonders prominentes und weitreichendes Beispiel. Andere Kulturen unterscheiden sich davon teilweise doch beträchtlich, man denke zB an das chinesische Yin-Yang-Symbol.
Der Vorrang des Individuums vor der Gesellschaft, diese merkwürdige Mär vom ‘Gesellschaftsvertrag’, von zunächst mal lauter ‘alleinstehenden’ Individuen, die sich dann anschließend erst zu einer Gesellschaft zusammenfinden, gehört natürlich auch in diesen Komplex.
Nochmal: es gibt keine ‘menschliche Natur’ jenseits menschlicher Kultur. Jeder Mensch ist und war immer schon ein Produkt seiner jeweiligen Kultur. Selbst die existentiellsten biologischen Bedürfnisse des Menschen wie zB die Nahrungsaufnahme sind immer schon kulturell überformt – was als Delikatesse oder auch nur überhaupt als Nahrung akzeptiert wird unterliegt weit weniger irgendwelchen plumpen Nützlichkeitskriterien als den jeweiligen kulturellen Vorgaben. Für Kleidung, Behausung – und natürlich auch den Sex – gilt entsprechendes. Das Wesen des Menschen ist seine Kultur.
Soweit erstmal und wie gesagt etwas grob meine aktuellen und unwesentlichen Gedanken zu diesem Clusterfuck mit der ‘menschlichen Natur’. Das Thema Gewalt habe ich zwar erstmal nur gestreift – aber dass es vielleicht keine so gute Idee war und ist, gegen etwas rein Eingebildetes gewaltsam vorgehen zu wollen, dass das nur eine Gewaltspirale in Gang setzt, die irgendwann überdreht und eine solche ‘Zivilisation’ am Ende sogar in totale gegenseitige Vernichtung umzuschlagen droht, das scheint mir doch irgendwie naheliegend zu sein.
(Und an dieser Stelle auch noch einmal der dankbare Hinweis auf das schmale Bändchen ‘The Western Illusion of Human Nature’ von Marshal Sahlins)
Januar 14th, 2018 at 21:29
Oder kurz: der ‘Deal mit der Zivilisation’ ist hinfällig wg fehlender Geschäftsgrundlage…
Januar 14th, 2018 at 22:15
Ich hatte schon kurz erwogen, dich zu diesem Thema zu kontaktieren, weil das genau in ‘deine’ Richtung zielt. Mal schauen, was noch daraus wird.
Die Risse, die durchs Individuum laufen, sind in dieser Kultur (die noch näher zu umreißen ist) nicht zu kitten. Es soll irre indivduell sein, sein Spielraum (oder Laufstall) sind dabei so tolle Angebote wie Konsum, Klamotten, abstrakter Status. Es soll ‘frei’ sein, unterliegt aber tausenden Zwängen, die es nicht durchschaut und nicht wirklich beeinflussen kann.
In Subkulturen kommen immer wieder Strukturen zustande, die anders funktionieren. Teils ist mehr Raum für Individualität, weil Hierarchien nicht zementiert sind und die Einzelnen eben mehr Einfluss haben. Teils schlägt das auch schnell ins Gegenteil um, weil der Zwang doppelt zuschlägt: Es gibt ja den äußeren Rahmen (Staat) und einen inneren (Gruppe/Subkultur), wobei letzterer durch unmittelbare Gewalt auch unmittelbare Kontrolle ermöglicht, die wiederum brutale Autoritäten ermöglicht.
Einen möglichen Ausweg sehe ich nur in dynamischen Verhältnissen von Regeln und Verhandlungen mit direkter Beteiligung der Betroffenen. Dazu müssen sie möglichst gleiche Anteile an Macht haben (quasi demokratisch), damit aber eben auch an unvermeidlicher Gewalt. An dieser Stelle haben wir dann das Gegenteil von Staat, der die Individuen schwach und machtlos macht.
p.s.: Das trägt eineige sehr ‘liberale’ Züge, nur eben mit einer klaren Tendenz zur Gleichheit, die Individualität nämlich erst ermöglicht.
Januar 15th, 2018 at 10:06
Der von dir skizzierte Ausweg entspräche in etwa den Gesellschaften, die Hermann Amborn in seinem Band ‘Das Recht als Hort der Anarchie’ beschreibt. Die Schwierigkeit bestünde darin, diese Grundsätze in unseren hochkomplexen und ‘ausdifferenzierten’ Gesellschaft in Institutionen zu gießen. Eine der Voraussetzungen der von dir angesprochenen Gleichheit wäre (ua) nämlich auch, dass die Betroffenen zugleich auch ‘Wissende’ sind, um ihre Belange überhaupt sinnvoll und ‘verständig’ vertreten zu können. Das erfordert mindestens eine verstärkte Rückbindung von Teilaspekten an ein ‘grundsätzliches Ganzes’, eventuell sogar die Reduktion einer nicht mehr handhabbaren Komplexität.
‘Möglichst gleiche Anteile an Macht’ bedeutet auch, dass Macht nicht wie bislang immer nur ‘errungen’, sondern dass sie vor allem ‘zugestanden’ wird. Der Doppelcharakter von Macht – als ‘Vermögen, etwas zu bewirken’, das einem Einzelnen aber bei ‘Ausschließlichkeit’ auch immer die Möglichkeit der Dominanz eröffnet, muss besser aufgedröselt werden. Aus ‘Wissen ist Macht’ müsste ‘Macht ist Wissen’ werden – das Wissen um die Notwendigkeit und die Vorteile, beides zu ‘teilen’.
Gegen ‘liberale Züge’ wäre nichts einzuwenden – ausser dass ein solcher Liberalismus auch neu begründet werden müsste, jenseits des Eigentums bzw mit einem veränderten Eigentumsbegriff, in etwa entlang der Kontroversen zwischen dominium und patrimonium. Also noch einmal neu sortieren, was ‘mein’ und ‘dein’ sein kann und sollte, und was, angefangen mit Grund und Boden, immer nur ‘unser aller’ sein kann – sich aber doch immer in der praktischen Verfügung Einzelner bzw einzelner Gruppen befinden muss. Ich kann und will von hier aus nicht entscheiden, was im einzelnen mit irgendeinem Acker bei Kalkutta geschehen soll – solange das in einem ‘Rahmen’ bleibt. ‘Menschheit’ nicht nur zu denken, sondern wirklich zu ‘sein’ wäre also eine weitere kleine Aufgabe.
Packen wir das noch die nächsten 10-20 Jahre…? :p
Januar 17th, 2018 at 14:59
Ich möchte eine Konsequenz des oben gesagten noch einmal besonders herausstellen: wenn uns von ‘Natürlichem’, vom ‘allgemein Menschlichen’ erzählt wird ist es tatsächlich fast immer ‘gesellschaftlich Spezifisches’. Der Ausnahmen sind wenige, und selbst diese sind immer noch ‘gesellschaftlich spezifisch überformt’.
Zur Genese griechischen Denkens wäre noch anzumerken, dass deren ‘Urmythologie’ eigentlich schon die ganze Geschichte erzählt: in das unglaubliche ‘Chaos’ der Titanen und Giganten mit ihren unvorstellbaren Grausamkeiten – Kinder fressen, Vater entmannen etc – kam erst so etwas wie ‘Ruhe und Ordnung’, als Zeus den Posten als ‘Herr im Haus’ übernahm. Dieser ‘Göttermonarch’ mit seinen spezialisierten ‘Ministern’ für alle möglichen Bereiche und Angelegenheiten gibt dann auch gleich die heute noch gültige Blaupause für das organisierte Staatswesen europäischer Prägung ab.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass diese jahrtausendealte ‘Tiefenströmung’ eigentlich kaum zu überschätzen ist. Den Kapitalismus loswerden ist das eine, aber der ausgesprochen fruchtbare Boden, auf den er fiel, sollte auch dringend mal gründlich umgepflügt werden…
Zur Ergänzung vielleicht auch nochmal der Hinweis auf meine früheren Grobheiten hier und hier.
Januar 18th, 2018 at 12:00
Nochmal kurz zum Thema Gewalt: wenn wir die wie Krieg unterscheiden in (illegitimen) Angriff und (legitime) Verteidung, dann trifft das Gewaltmonopol des Staates in erster Linie letztere. In diesem Zusammenhang könnte es sich lohnen, auch mal über ‘Gewalt und Grenze’ nachzudenken. Und inwiefern das Gewaltmonopol eine ‘Entgrenzung’ des Einzelnen bedeutet. Das wird im Opener, insbesondere im letzten Absatz, zwar schon angesprochen, wäre aber vielleicht noch einer näheren Betrachtung wert.
Was meine ‘Obsession’ angeht, so verstehe ich, dass sich das im Einzelnen alles ziemlich banal anhört. Kennt man, weiss man, ist im Grunde nichts Neues. Leider gelingt es mir offenbar noch nicht so recht, die mE überaus weitreichende Bedeutung dieser ‘simplen’ Fehlannahme herauszustellen. Ich drohe hiermit an, weiter daran zu arbeiten.
Ich könnte mich natürlich auch völlig verrannt haben. Dann wäre ich aber für Widerspruch dankbar.
Wie dem auch sei, ich hoffe, das Thema ‘Zivilisation und Kultur’ wird weiter fortgesetzt.
Februar 7th, 2018 at 16:18
Eine zugegeben recht späte Ergänzung, aber ich kann nicht widerstehen… ;)
“Der Kontinent [Afrika] ist nach meiner Meinung der bestgeeignete Ort, um eine Antwort auf die drängende Frage nach der Zukunft des Lebens auf unserem Planeten zu finden.
Dieser Frage können wir uns nicht angemessen zuwenden, wenn wir nicht gleichzeitig unsere Kritik am Kapitalismus sowie an einigen grundlegenden Annahmen und damit zusammenhängenden Praktiken des sogenannten westlichen Denkens intensivieren – jenes Denkens, das den Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Form erst ermöglicht hat. Mit anderen Worten, eine radikale Kritik des Kapitalismus ist von einer erneuerten Kritik des westlichen Denkens nicht zu trennen, weil beide eng miteinander verknüpft sind. Das beinhaltet automatisch eine Entkolonialisierung des westlichen Denkens, die Aufhebung seiner Provinzialität und Beschränktheit. Und das geht nur, wenn Kapitalismus und westliches Denken gleichzeitig der Kritik unterzogen werden.
Was sind nun einige dieser grundlegenden Annahmen des westlichen Denkens? Zum Beispiel die Vorstellung, dass die Natur eine feste Größe ist, dass man sie messen kann, dass sie uns zur freien Verfügung steht und wir sie ausbeuten dürfen. Dass ferner materielle Objekte nur dann aktiv werden, wenn von außen auf sie eingewirkt wird; die Vorstellung, dass der Mensch die einzige Spezies ist, die ein Bewusstsein hat, und unabhängig von der Welt existiert, dass die Menschen Herren des Universums sind und so weiter. Diese Annahmen gehen auf solche Dualismen und binären Gegensätze zurück wie Subjekt und Objekt, das Gleiche und das Andere, das Menschliche und das Nichtmenschliche, das Normale und das Abnormale. Das westliche Denken wäre ohne diese Gegensätze nicht entstanden.
Interessanterweise entstammen einige der Mittel, die für die Kritik am westlichen Denken notwendig sind, diesem selbst. Wir müssen also diese dem westlichen Denken innewohnenden Instrumente nutzen, sie dem entnehmen, was Édouard Glissant, ein Schriftsteller aus Martinique, die »All-Welt« (frz. »Le Tout-Monde«) nannte – also die »Archive der gesamten Welt«. Das steht wiederum im Einklang mit dem, was ich bereits als »Zeitalter der planetarischen Verschränkung« anführte, das wir uns als ein Leben in Gemeinsamkeit vorstellen, das nur möglich ist, wenn wir nicht nur ein Archiv, sondern die der gesamten Welt berücksichtigen.”
(Quelle)