Schon Kinder brauchen Ordnung um mögen daher die Wiederholung. Kluge Kinder, die nicht mit Gewalt verblödet werden, sind aber neugierig und finden bald viel mehr Vergnügen an den Geschichten und den Kapiteln, die sie noch nicht kennen. Das ist die Dialektik des Narrativs: Es knüpft an und erzählt neue Kapitel; derweil zerren die Kapitel der Vergangenheit an allem Neuen wie an Materie, die ein Schwarzes Loch verlassen will. Manches Kapitel muss wieder und wieder entstehen, um endlich an der Oberfläche zu bleiben.
So finden sich diejenigen, die längst in den Irrtum eingewobene Kapitel schließen und durch andere, zeitgemäß wahre ersetzen wollen, in einer paradoxen Situation: Sie wiederholen das Neue. Wieder und wieder erzählen sie ihre Gegengeschichte, verneinen, korrigieren und klären auf. Teils so lange, dass sie Gefahr laufen, ihrerseits das zeitgemäß Neue nicht mehr wahrzunehmen. Es gibt tatsächlich Korrekturen der großen Erzählung, des ‘Common Sense’, die sich überleben, ohne je dauerhaft ‘Öffentliche Wahrnehmung’ zu werden. Das Kapitel von der gerechten Marktwirtschaft etwa ist ein solches. Es hatte seine Zeit in den 70ern, sein Held ist Willy Brandt. Das Kapitel vom Russen, der gar nicht böse ist, ein anderes. Es ist mit der Figur des Gorbatschow verbunden.
Where Ham Is Spam
Ich habe mich vor einer Weile gefragt, ob die Bloggerei eine Art Spam ist. Das Netz ist eine ewige Flut von Texten, die immer weniger zu bewältigen ist. Jeder neue trägt dazu bei, dass man die meisten nicht mehr lesen kann. Aber das ist ein Problem der Archivare, die sich eben umstellen müssen – eine Aufgabe übrigens, die noch kaum irgendwo begonnen wurde. “Big Data” ist hier nicht der Weg, sondern die Kunst, Quellen zu bestimmten Fragen zu finden und zusammenzustellen. Eine ganz neue Art von Redaktion, die nicht zuletzt im Auslassen besteht. Das Internet ist definitiv der Tod der Vollständigkeit.
Auf der anderen Seite bleibt es bitter nötig, weiter zu drängen, zu widerstehen; die Kapitel einer zeitgemäßen, aufgeklärten Erzählung zu schreiben und auch zu wiederholen. Das Klügste wird aufs Dümmste angewiesen bleiben: Ohne quasi rituelle Wiederholung besteht nichts. Was verschwiegen wird, wird verschwinden. Ob es dann je wieder auftaucht, ist ungewiss. Immerhin kann man es variieren; das kann manchmal sogar spannend oder komisch sein. Tragisch ist es allemal.
November 22nd, 2017 at 00:43
Iiiih, Meta.
Willy und Gorbatschow find ich toll auf den Punkt gebracht.
Aber auslassende Archivare im Internetz – da biste weit im utopischen. Ganz oder gar nicht ist doch die Devise – siehe urb dict oder die ganze wiki-klitsche.
Zum letzten Absatz ; ich hab wenig Hoffnung, siehe [1] und [2], das Klügste verschwindet schneller als dieser Schrunz, Resistance is futile.
Das Bild gab’s auch lang nicht mehr, immer wieder schön.
[1] https://www.heise.de/newsticker/meldung/Bastler-will-aus-selbstgebauter-Rakete-die-flache-Erde-fotografieren-3895820.html
[2] https://www.reddit.com/r/600euro/top/
November 22nd, 2017 at 18:16
Ja echt ma, immer diese Theoriescheiße. Das Pic ist auch oll; ein Leser weniger!!111!
November 22nd, 2017 at 20:47
OT: “Die Lage auf der BER-Baustelle ist dramatischer als bisher bekannt. Eine Eröffnung vor 2021 ist demnach unwahrscheinlich.” Gniihihii. Ich wäre ja für die Verlegung nach Tegel und nen chicen Bolzplatz mit Badesee, Snooker-Trainingszentrum und ein Baumafia-Museum an Ort und Stelle.
Erst dachte ich ja, ich wär’ voll der Kenner, aber inzwischen … Noob, ich!
November 23rd, 2017 at 09:32
Dann gäbe es ’21 ja wenigstens eine Großbaustelle, die fertig wird und eingeweiht werden kann. Stuttgart kann aufatmen…
November 23rd, 2017 at 10:54
Aber es hat uns ein feynes neues Wort beschert: “Nichteröffnung”. Da kannste immer wieder feiern bis zum Abwinken.
November 23rd, 2017 at 14:20
Und hier haben wir mal die Beschreibung einer Kultur, die offenbar ganz ohne Narrativ auskommen möchte.
November 23rd, 2017 at 16:15
@Peinhart
Ähm… das Bild – ein Narrativ? Zumindest könnte es ohne “rituelle Wiederholung” bestehen.
November 23rd, 2017 at 17:16
@Pentimento: Ich verstehe Peinhart so, dass dieser Schwachsinn an gar nichts mehr anknüpft. Er ist ahistorisch, antiwissenschaftlich und schweibt frei in der sozialen Luft. Jeder, der irgendeine bescheuerte Idee hat, die diesen Ideologen ‘gerechter’ vorkommt, darf da mal an der Sprache rumpfuschen, und wenn seine depperten Vorschläge im Plenum angenommen werden, sind sie ab sofort Pflicht für alle. Als männliche weiße Mehrheit ist es mir ein großes Bedürfnis, das zu unterdrücken.
November 23rd, 2017 at 17:57
@flatter: da bin ich ganz Deiner Meinung.
Ideologie ist immer peinlich, genau wie jeder “ismus”. Eklig sind die Pfuscher, nicht nur der Sprache, sondern jeder Art kreativen Outputs.
Kunst ist nicht demokratisch. Avantgarde zu sein ist leicht, oder besser, um Dich zu zitieren: “Jeder hat die Avantgarde, die er verdient.” :)
November 23rd, 2017 at 18:19
@flatter #8 – Diesem Verständnis kann ich mein Verständnis nicht versagen. :p Frei flottierende Dividuen bar jeder Gesellschaftlichkeit, die sich nicht in Ware-Geld-Beziehungen erschöpft. Der feuchte Traum des (Neo-) Liberalismus, mit der Macht der Dummheit vorangetrieben von Leuten, die sich aus unerfindlichen Gründen auch weiterhin für ‘irgendwie links’ halten. Es sei denn, man legte eine textile Semantik zugrunde – ‘inside out’ wäre ja ‘befindlichkeitsmäßig’ so unzutreffend nicht.
November 23rd, 2017 at 18:46
OT – Herr Schäuble führt sich in sein neues Amt ein – tagesmärchen: Was dürfen Abgeordnete im Bundestag – und was nicht? Darüber ist in Berlin eine Debatte entbrannt. Anlass: Ein Brief, in dem Bundestagspräsident Schäuble das Twittern aus dem Plenarsaal als unangemessen bezeichnet. Aber wer bestimmt, was angemessen ist?
Blöde Frage, jetzt wo Wolle da ist.
November 24th, 2017 at 09:05
Nochmal zu #6-10 – Ein weiterer schöner Nebeneffekt ist noch, dass die Leute durch die totale Aggressionshemmung, die ihnen damit abverlangt wird, auch vollkommen hilf- und wehrlos werden. Clockwork Orange, wenn auch mit anderen Mitteln.