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Dass der Neoliberalismus religiöse Züge trägt, war hier häufig Thema. Zuletzt fiel mir aber auf, dass nicht nur diese unwissenschaftliche, ideologisch aufgeladene Wirtschaftsverklärung religiöse Züge trägt, sondern generell alle möglichen ‘Theorien’ und Weltbilder zur Religion werden, wo sie sich eben für den Selbsterhalt und gegen die Wirklichkeit entscheiden. Entscheidend für einen solchen Werdegang – selbst von einem wissenschaftlichen Bemühen – hin zur religiösen Verklärung ist das, was unter dem sperrigen Begriff “Theodizee” gefasst wird, der aber recht einfach zu verstehen ist.

Dahinter verbirgt sich die Frage danach, wie das Böse in die Welt kommt, wenn es einen allmächtigen guten Gott gibt. Von der Beantwortung dieser Frage hängt die Ausprägung der Religion ab. Dass aber überhaupt dieser Grundwiderspruch gekittet wird anstatt ihn zu benennen oder auszuräumen bzw. die Theorie an die Wirklichkeit anzupassen, charakterisiert Religion. Der einfache Schluss nämlich, dass es einen solchen Gott unter realen Bedingungen nicht geben kann, ist Tabu. Der Erhalt der festgelegten ‘Wahrheit’, auf der eine Gesellschaft beruht, gilt mehr als eine Wahrheit, die sich der Realität stellt.

Ich zweifle, also bin ich – draußen

Dies stellt sich überall dort ein, wo der Zweifel am Gegebenen unterdrückt wird oder die Zugehörigkeit zu der unter einer bestimmten Weltsicht vereinigten Gesellschaft den Zweifel ausschließt. Das kennen wir von Religionen, aber auch von Fußballvereinen oder eben ‘Ökonomien’. Beim Fußball ist das ganz einfach: Wenn unsere Mannschaft foult, ist das gesunde Härte, tut’s der Gegner, ist er ein mieser Treter. Unsere stehen nie im abseits, die anderen immer, und egal wie deppert wir kicken, wir sind immer die Größten. Da sich dieser Fan-atismus auf einen übersichtlichen Bereich gesellschaftlicher Relevanz begrenzt, ist die Gefahr, die davon ausgeht, ebenfalls begrenzt.

Auf der Ebene einer großen Gesellschaftsformation aber, eines Staates oder Staatenbundes gar, einer globalen Ökonomie oder einer verbreiteten Weltsicht ist das Problem von extremer Brisanz. Dabei besteht es nicht in einer falschen Auslegung von Wirklichkeit, sondern darin, dass der Erhalt der vorhandenen Strukturen zwangsläufig in solchen religiösen Fanatismus mündet. Religion ist reaktionär und alles Reaktionäre nimmt religiöse Züge an. Die Verbindung von Religion und Herrschaft ist also weder zufällig noch gewollt, sondern unvermeidlich, solange Menschen sich mit Tabus und Dogmen das Denken einfach machen.

Es war mir schon sehr früh klar, dass man etwa Faschismus nicht verstehen kann, wenn man sich ihn nicht als beste aller Gesellschaftsformen vorstellt. Genau so klar muss es sein, dass es keine ‘Wahrheit’ geben darf, die nicht infrage gestellt wird und vor allem keine Theorie verboten werden darf. Gar keine, niemals. Das Schlimmste aber, in dem eine Gesellschaft enden kann, ist eine festgelegte Weltsicht, in der gut und böse, wahr und falsch, schön und hässlich nicht einmal mehr verhandelt werden kann. In der allein das Nennen eines Namens zum Schweigen verurteilt, weil dahinter alle die Zweifel drohen, die angeblich ins Verderben führen. Wenn es nicht die Wirklichkeit ist, die über den Wert eines Gedankens entscheidet, sondern der produzierte Common Sense. Das ist der Zustand, in dem Dummheit und Brutalität das Regiment übernehmen.