Bundesarchiv, B 145 Bild-F009346-0008 / Steiner, Egon / CC-BY-SA 3.0
Was mich an der ‘Jungen Linken’, die ich mir erlaube so zu nennen, besonders stört, ist ihre Geschichtsvergessenheit. Sie ist nicht die erste Generation, in der maßgebliche Teile das Ende der Geschichte für gekommen hält oder schon den Anfang verpasst hat. Neu ist vielleicht, dass man gar nicht viel studieren oder um Jahrhunderte zurückgehen müsste, um epochale Veränderungen aufzufinden. Es würde völlig ausreichen, Zeitzeugen zu befragen.
Unter denen, die heute als “privilegiert” gelten, sind noch welche, die den Krieg erlebt haben, vor allem aber die Nachkriegszeit. Ich beschränke mich wie meist auf die BRD in meiner Betrachtung, weil ich eben hier aufgewachsen bin. Die Generation meiner Eltern hat Hunger erlebt. Es ging für sie nicht bloß um fehlendes Fleisch oder leckeres Essen; sie hatten teils gerade genug, um nicht zu verhungern. Wer schon abgemagert aus der Kriegsgefangenschaft kam, hatte vielleicht Pech. So geschwächt, konnte jedes Zipperlein tödlich enden.
Auferstanden …
Apropos Krieg: Nicht nur die Nazis wurden zerbombt oder an der Front getötet. Familien ohne Väter waren ‘normal’, was den Müttern kein Trost gewesen sein dürfte. Das tausendjährige Reich hat nicht danach gefragt, woher wer kam, ob er Männlein oder Weiblein war, es hinterließ größtenteils Ruinen. Allein die Reichen sind reich geblieben – wenn sie keine Juden waren. Die Ausgebeuteten haben zuerst wieder aufbauen müssen, um dann – ausgebeutet zu werden.
Die Teilhabe der Arbeiter am ‘Wachstum’ wurde in den frühen Jahren teuer bezahlt. Im Bergbau hat sich niemand über Staublunge oder “jauchige Bronchitis” gewundert. Was die Ausbeuter heute wieder feiern wollen, ist dass viele Männer nicht viel von ihrer Rente hatten. Chemiearbeiter haben in Giftstoffen gebadet, auf dem Bau wurde mit Asbest geaast.
Hart, aber ungerecht
Niemand wäre auf die Idee gekommen, das Rauchen zu verbieten. Männer, die hart genug waren, Wetter, Buckelei und Gift zu ertragen, hätten es sich auch nicht verbieten lassen, ebenso wenig wie Frauen, die es nicht leichter hatten und oft aus Hunger damit angefangen hatten. Das Privileg gesund zu leben hatten die Reichen und erst allmählich die (gehobene) Mittelschicht.
Als elende Armut, Hunger und Tod zunehmend exportiert wurden, ging es den Menschen hier immer besser. Zwar wurde meine Generation noch fröhlich vergiftet (ich habe 30 Jahre in Schule und Uni in Asbest- und PCB-verseuchten Gebäuden zugebracht), die Lebenserwartung stieg aber durchaus mit dem Standard. Starke Gewerkschaften sorgten dafür, dass gerade in den Betrieben immer bessere Gesundheitsbedingungen umgesetzt wurden, was für die Industrie im Allgemeinen keine Einbußen bedeutete.
Konsum und Sühne
Aus der zweiten Generation bildeten sich Bürgerinitiativen und aus denen u.a. die Grünen. Deren Gründungsmitglieder waren deutlich antikapitalistisch aufgestellt. Ihnen wurde vorgeworfen, “industriefeindlich” zu sein und sie waren es durchaus auch, da sie eine andere Vorstellung von Gesellschaft hatten als eine, die zu Wohle des Kapitals die Umwelt zerstört und ganze Erdteile in Armut hält. Das hat sich sehr schnell geändert, denn schon bald sollten sie ihre politischen Ziele auf Massenkonsum zuschneiden. Konsum und Profit stehen nicht mehr infrage, dafür wurde der Mythos eines ‘sauberen’ Kapitalismus verfasst.
Genau aus dieser Perspektive laboriert die linksgrüne Jugend von sich hin, die die Erfahrungen der älteren Generationen ignoriert, die Kritik am Kapitalismus aufgegeben hat und stattdessen lieber Verhaltensvorschriften erfindet, mit deren Hilfe die Umwelt sauber, die Arbeit gut, das Leben gesund und die Gesellschaft gerecht werde. Damit vertreten sie nicht nur unmittelbar Kapitalinteressen; sie sind auch völlig mit der protestantischen Wurzel der religiösen Ideologie versöhnt, die den Kapitalismus seit jeher getragen hat.
März 10th, 2017 at 18:32
“die Kritik am Kapitalismus aufgegeben hat und stattdessen lieber Verhaltensvorschriften erfindet, ”
Solche Blindgänger könnte man ja ignorieren. Die jungen Linken die ich kenne, machen beides: radikale Kapitalismuskritik und Verhaltensvorschriften. Das finde ich viel tragischer.
März 10th, 2017 at 18:48
Ich frage mich, wie das gehen soll. “radikale Kritik” bedeutet ja nicht, dass man etwas emotional aufgeladen ablehnt, sondern es akribisch analysiert.
März 10th, 2017 at 19:09
Stimmt. Ist ja aber deren Selbstbeschreibung. Ich sehe diese Jungen Leute, die jetzt bei Blockupy und bei großen Aktionen den Ton angeben (zb die interventionistische Linke aber natürlich auch tausend autonome Gruppen). Und die sind tatsichlich oft schon mit der Kritik fertig. Und dann entwickeln sich solche Eigentümlichen Ideen und neue Ismen die es zu bekämpfen gilt. Das ist auch meine vorläufige Begründung für die spezialisierten Linken. Die Antideutschen, Antiras, Antifas, etc. Die Drift ins Identitäre greift um sich, wo Menschen marginalisiert sind .-p
März 10th, 2017 at 19:32
Ja mei, Grüne und Liberale sind für die Linke leider gerade ein Hemschuh, den diese nicht so leicht abwirft.
Es braucht einfach mehr linke Provokateure oder scharfzüngige Kommentatoren, die solche Leute wegekeln und Platz für weniger verwöhnte und bornierte Leute schaffen.
Immerhin ist Weniges einfacher als Liberale zu provozieren.
März 10th, 2017 at 20:24
Genau so ist es!
Besonders auffällig auch bei Mitte-Merkel-Mittelschichtler, die sich über streikende Lehrer, Erzieher, Piloten oder Lokführer aufregen. Die glauben wohl, ihr 8 Stunden Arbeitstag, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die 5 Tage-Woche, Kinder-Krankengeld sowie viele weitere Arbeitsrechte hat das Kapital den Arbeitern einfach so großzügig geschenkt. Das Gewerkschafter für diese Rechte nicht selten ermordet wurden, wird schnell vergessen.
März 10th, 2017 at 21:03
Die meisten wurden nur ein Mal ermordet. (scnr)
März 11th, 2017 at 01:10
“Genau aus dieser Perspektive laboriert die linksgrüne Jugend von sich hin, die die Erfahrungen der älteren Generationen ignoriert, die Kritik am Kapitalismus aufgegeben hat und stattdessen lieber Verhaltensvorschriften erfindet, mit deren Hilfe die Umwelt sauber, die Arbeit gut, das Leben gesund und die Gesellschaft gerecht werde.”
Hab ich was verpasst? Links? Grün? Laborieren?
März 11th, 2017 at 11:45
Meine Fräse, ich habe gerade die Kolumne vom Augstein gelesen. Hat der einen an der Waffel …
März 11th, 2017 at 12:12
Naja, der Führer war ja auch der Glücksfall für die Demokratie, nicht… (bin dann mal im Keller)
März 11th, 2017 at 16:26
OT: Echter Q-Journalismus, ganz großer Stil:
“Sie gilt als unermüdliche Politikerin …”
Kann man sinnfreier formulieren? Es kommt aber noch besser; der ganze Satz wäre mir im dritten Schuljahr schon um die Ohren gehauen worden:
“Sie gilt als unermüdliche Politikerin und mischte sich in der Vergangenheit immer wieder aktiv bei Themen wie der Flüchtlingspolitik und besetzten Häusern ein und demonstrierte gegen zu hohe Mieten.”
März 11th, 2017 at 20:08
@flatter: Ich finde den Opener nicht gut. Meine Erfahrung mit jungen Leuten ist, dass sich niemand aus den unteren Schichten für Politik interessiert und Leute in unserem Alter (+10/-20 Jahre) eher dem neoliberalen Credo folgen, wenn sie ihre angestammte Mittelschichtposition denn erhalten konnten. “Junge Linke” kenne ich persönlich genau 0.0, was natürlich daran liegt, dass ich Parteienkreise meide wie die Pest. Das kann einer meiner Fehler sein, wie mir Freunde nahelegen wollen, die mir wohl gesonnen sind. Egal, denn zum Dutschke reicht’s bei mir nicht, obwohl ich längere Zeit durchaus sinnvoll und zusammenhängend quatschen kann – Ich habe auch nicht seine Pullover. :-)
Jegliche Identifikation ist im Arsch, weil der Klassenbegriff schon vor Jahrzehnten dank rechter Ideologen (siehe spd) erfolgreich beerdigt wurde. Wir haben jetzt halt Individualismus. Marx als klassischer Bezugspunkt ist kaputt und unbekannt.
Ich bin außerdem davon überzeugt, deine anfängliche Analyse sähe anders aus, wenn du Eribons “Rückkehr nach Reims” gelesen hättest, womit ich eine klare Leseempfehlung aussprechen möchte.
Es geht nicht nur um ein bisschen Geschichtsunterricht …
März 11th, 2017 at 20:44
Selbst junge “Linke” findest du im Netz. Ich habe sie auch schon in echt gesehen. Warum das Buch hier an der Analyse etwas ändern soll, weiß ich nicht. Verrätst du es mir?
Dem letzten Satz kann ich auch nicht zustimmen; immerhin ist das ein erreichbares Ziel.
März 11th, 2017 at 21:05
Ich gestatte mir jetzt einfach mal keine Lust zu haben. Das ist kein gutes Argument, aber mich treibt es nach einem langen Tag ins Bett. Das muss auch mal drin sein, denke ich mir so.