Ich weiß gar nicht, ob ich das gefragt wurde, aber ich greife das dennoch einmal auf, weil es immer verargumentiert wird: alle möglichen Verhaltensweisen und -muster seien “genetisch bedingt”. Das ist gemeinhin pure Mythologie. Zuletzt wurde dergleichen in Zusammenhang gebracht mit ‘männlichem’ Verhalten, Dominanz, Herrschergebaren. Begründung: Das sei ja schon immer so gewesen.
Dazu ein schlichter Widerspruch: Es ist überhaupt kein Anhaltspunkt dafür, dass etwas “genetisch bedingt” ist, wenn es in unterschiedlichen Gesellschaften vorkommt. Beispiel: Wenn jemand wütet, Gewalt ausübt, den Kampf sucht, aggressiv ist, dann atmet er schneller. Es ist also völlig richtig zu sagen, dass unter sehr unterschiedlichen sozialen Bedingungen und übrigens auch ‘genetischen’ Voraussetzungen schnelle Atmung mit Zorn und Gewalt in Verbindung steht. Ist Atmen deshalb die Ursache für Gewalt?
Das ‘Genetik’-Argument zeugt von mangelnder Phantasie und übrigens zumeist Unkenntnis des Umfangs sozialer Bedingungen. Bleiben wir getrost bei männlicher Dominanz und treiben das durch ein paar Epochen: Es ist nicht bekannt, ob es matriarchalische Epochen gegeben hat, bekannt sind hingegen die patriarchalischen vor allem seit Einführung der Schrift. Es gibt seit der Antike einige Strategien, die Männer benutzt haben, um ihre soziale Stellung zu erhöhen, dazu gehört eine Art Bio-Mythos, der lange gepflegt wurde, nämlich die Theorie, Frauen brüteten den Nachwuchs der Männer bloß aus.
Absurde Geschichten
Die christliche Religion ist hier ein herausragendes Beispiel. Ein Gott, der sich selbst als menschlichen Sohn inkarniert, braucht dazu eine menschliche Frau, die auf den Spruch eines Engels hin den Gottmenschen ausbrütet. Diese völlig absurde Geschichte wirkt bis heute. Aber es gibt schon frühere Quellen, etwa Platons “Gastmahl”, ein Roman mit einem Erzähler (Sokrates), der wiederum Reden zitiert. Eine dieser Reden hält eine Frau, Diotima, die ein Loblied auf die Liebe hält. Diese sei umso höher zu preisen, je mehr sie von ihrem leiblichen Ursprung abrückt. “Zeugen und Gebären im Schönen” sei schließlich die höchste Form der Liebe. Gleichzeitig gelingt es ihr freilich damit, noch die abgehobenste Abstraktion der Klugscheißer an ihre körperlichen Quellen zu erinnern.
Die gottväterliche Macht war für Jahrtausende das Vorbild der Gesellschaft, könnte man meinen. Tatsächlich ist es vor allem umgekehrt: Die Kultur, zu der auch die Herrschaftstechniken gehören, folgt vor allem der Ökonomie. Das heißt nicht, dass alles wirtschaftliche Gründe hat, sondern, dass es sich auszahlen muss. Die Erzählung muss zum Möglichen und Machbaren passen. Die Macht braucht eine Rechtfertigung, die zu den Möglichkeiten der Gesellschaft passt. Die Feudalherrschaft funktionierte, weil sie die lebensnotwendigen Arbeiten organisieren konnte. Dazu gehörte auch die Kriegsführung, die zur gegebener Zeit eine Sache der Männer war. Sie waren nicht nur stärker (eine entscheidende Größe), sondern Frauen mussten als Mütter auch schlicht geschützt werden. Na und dann war da eben noch dieser Jesus.
Völlig einäugig wäre es aber, die Politik zwischen den Stämmen und Völkern auf Krieg zu reduzieren. Viel erfolgreicher war die Alternative sich zu verbünden, nämlich durch Heirat. Dabei wurden übrigens nicht nur Frauen zwangsverheiratet. Die Männer wurden ebenso wenig gefragt, ob sie nicht vielleicht eine andere liebten. Soll man jetzt aber sagen, dass Heirat oder Zwangsheirat genetisch bedingt sind, weil sie in vielen Epochen und Kulturen vorkommt? Kultur ist immer komplex: Arbeitsbedingungen, technische Entwicklung, Militär, Religion – das Ganze muss stabil sein. In den gut überlieferten Epochen hatten Männer dabei meist eine politisch bestimmende Position, es gab aber zu allen Zeiten auch Ausnahmefälle.
Zeiten ändern sich
Was heißt das für heute? Erstens ist das Gen-Argument so etwas wie ‘Schicksal’. Es ginge in die Richtung: “Man kann ja doch nichts ändern”. Zweitens und vor allem widerspricht es fundamental den heutigen(!) Möglichkeiten. Ein Patriarchat ist völlig überflüssig geworden und daher auch gewaltig auf dem Rückmarsch. Man muss sich nur anschauen, wie in den hoch entwickelten Ökonomien die Menschen vom patriarchalischen Glauben abfallen, wie sich tatsächlich die Rechte der Frauen in jedem Jahrzehnt weiter verbessert haben und wie erfolgreich die jüngeren Ideologien politisch sind. Dass die Jahrtausende alten Gewohnheiten sich so schnell nicht ablegen lassen, nimmt nicht wunder. Es gibt ja auch immer noch überall Religionen.
Diese Reaktion führt global und in vielen gesellschaftlichen Gruppen dazu, dass es noch reichlich Reste einer überkommenen Gesellschaftsform gibt, aber diese sind in Auflösung begriffen. Was Not tut, ist wie gesagt eine universelle Solidarität, die den Möglichkeiten der technischen Entwicklung entspräche. Der Kapitalismus hat dabei kein Problem mit Frauen, bestimmten Rassen oder Minderheiten. Er mag eben nur keine Solidarität. Daher sind ihm alle Ideologien hoch willkommen, die alte oder neue Konflikte schüren. Alles eine Sache von Ökonomie und Kultur, und die sind immerhin veränderbar.
März 6th, 2017 at 09:48
“Der Sieger schreibt die Geschichte!”
“Sagen sie mir, Winston, wie viele Finger sind das?
Vier.
Wenn die Partei sagt, das sind nicht vier,
sondern fünf,
wie viele sind es dann?”
Picard
“Das Schlimmste war, dass ich kurz davor war,
zu glauben,
es wären wirklich fünf Lichter.”
Nur das heute es heute viel subtiler passiert und die Leute gerne zur Menge gehören,aber sih für eigenständig halten…
Wie immer mein Hinweis auf Aschs Konformitätsexperiment,Milgram und Zimbardo…
März 6th, 2017 at 10:02
“Es ist nicht bekannt, ob es matriarchalische Epochen gegeben hat, bekannt sind hingegen die patriarchalischen vor allem seit Einführung der Schrift.”
Im letzten Jahr lief in Ba-Wü eine große Ausstellung mit sowas:
tinyurl.com/zt8ntx8
Dr. Helmut Schlichtherles (ehemaliger Chef der Unterwasserarchäologie im Landesamt für Denkmalpflege Ba-Wü): „Also zunächst hat man gesagt, ja gut, also Fruchtbarkeitssymbolik vielleicht, es gibt ja auch das Diktum einer Großen Muttergöttin der Jungsteinzeit, das immer wieder durch die Literatur geistert. Und wir sind zunächst auch mit diesen ja sehr schwammigen Hypothesen angetreten und haben dann aber gesehen, hoppla, da ist ja nicht nur eine, da sind mindestens sieben, alle gleich groß, alle nebeneinander in einem Fries, und da sind ja Zwischenmotive. Und über die Zwischenmotive sind wir sehr viel schlauer geworden und unter anderem auch über die Köpfe der Frauengestalten. Die Köpfe sind sonnenförmig. Und mit den Zwischenmotiven können wir sagen, da sind Ahnenreihen dargestellt. Es sind auch Zeitgenossen dargestellt, also ganz kleine anthropomorphe Signets und es gibt also einen Zusammenhang zwischen Ahnenverehrung, Ahnenreihen und diesen großen Weiblichen gestalten.“
Der Link zum Interview ist nicht mehr hinterlegt.
http://pfahlbauten2016.de/de/
Am Rande: Noch ein “bisschen” älter (ca. 35000 bis 40000 Jahre alt), 2008 bei Blaubeuren gefunden:
tinyurl.com/ho9kc7m
März 6th, 2017 at 18:19
ot heute schon gelacht oder ‘geritzt’? Na, dann mal los: Nils Heisterhagen (Politikwissenschaftler und Philosoph): Make the market social again! Von dem gibt es noch so einen text zum neuen “Arbeiterkaiser” Martin (den link setze ich nicht). Ich gönne mir jetzt erst einmal ein bier und dann noch eins und noch eins ….
März 6th, 2017 at 18:56
Nicht alle möglichen Verhaltensweisen und -muster sind genetisch bedingt, also angeboren. Einige davon können auch erworben werden, oder eben auch nicht. Nur welche davon?
März 6th, 2017 at 20:24
Gar nicht so OT: symbolische Gewalt.
März 6th, 2017 at 21:10
@flatter
Konnte nich bis morgen warten, hat sich gelohnt; zumindestens in dieser kurzen Zeit lichtet sich da etwas – wie lang’s dauert? dont know. Thx! (geht doch *g*)
@Peinhart
Schon die Übeschrift iss aussagekräftig: Ei freilisch, da iss was dra, gell?
März 9th, 2017 at 16:31
Erstmal bisschen Vorgeschichte. Seit der Aufklärung und somit Einzug der Wissenschaft in breite Bevölkerungsmassen hatte sich lange Zeit dennoch (leider) ideologisch weiterhin die Theorie gehalten, dass das menschliche Verhalten zum Grossteil, wenn nicht gar komplett von der Rasse sowie Geschlecht (Genetik als Wort und Forschungsfeld kam ja erst im 20. Jh.) abhängig ist. Das ist natürlich falsch.
Ab ca. Mitte 20. Jh. hat hier ein Umdenken durch entsprechende Erkenntnisse und möglichst ideologiefreier Forschung begonnen. Leider gab es aber dann wiederum ideologisch bedingt eine extreme Gegenbewegung (meist aus dem sog. linken Spektrum), die das menschliche Verhalten mit Ausnahme der Instinkte komplett der Umwelt, Sozialisierung, Kultur, usw. zugeordnet haben. Das ist nach aktuellen Erkenntnissen genauso falsch.
Die Neurowissenschaften sowie die Verbindung mit Genetik sind noch ziemlich “jung” und deshalb sind vieles noch Theorien und es gibt noch viel zu lernen. Was sich aber wohl abzeichnet ist, dass die externen Einflüsse das höchste Gewicht im Bezug auf unser Verhalten haben. Die Genetik spielt jedoch sehr wohl auch eine wichtige Rolle. Jedoch nicht so wie es bestimmte Kleingeister (z.B. Anhänger der Rassentheorie) gerne hätten/sich vorstellen. Nehmen wir ein Beispiel. Die Genetik beeinflusst ja z.B. die Hormonproduktion. So gibt es auch die entsprechend genetischen “Krankheiten” wie z.B. Hyperandrogenismus. Das kann sich äusserst stark auf den emotionalen Zustand und somit auf unser Verhalten auswirken. Hier ist besonders die Funktion der Hypophyse im Vordergrund und die kann ja abhängig von der Genetik mal besser mal schlechter funktionieren.
Auch hat man seit einiger Zeit die Erkenntnis gewonnen, dass manche Menschen anhand falsch ausgeprägter oder Überempfindlichkeit der Neurotransmitter im Gehirn eher Risikokandidaten für ein bestimmtes Verhaltensmuster sind (z.B. Suchtverhalten, Soziopathie, etc…). Das meiste kann man mit bewusstem Training und Reflexion in Griff halten. Völlig unabhängig von Genetik gibt es nun auch Erkenntnisse von Fällen, wo ein Gehirntumor radikale Persönlichkeitsveränderungen zur Folge hat. Dabei sind erhöhte Reizbarkeit oder Vergesslichkeit noch die kleinsten Probleme. Man hat bei einigen Fällen von plötzlich auftretendem psychopatischen oder soziopathischen Verhalten festgestellt, dass nicht selten ein Gehirntumor in Bereichen festgestellt wurde, wo eben die Regionen für Kontrollmechanismen im Gehirn liegen, die dann eben quasi schlechter oder gar nicht mehr greifen (siehe z.B. die Geschichte von Charles Whitman). Selbst plötzlich auftretende Neigung zur Pädophilie oder anderen Störungen der sexuellen Präferenzen werden nun häufiger in Verbindung mit physiologischen Krankheiten oder Schäden im Hirn in Verbindung gebracht.
Um auch mal auf das im Artikel erwähnte geschlechterspezifische Verhalten einzugehen, ergeben sich natürlich auch (im Mittel) eben Unterschiede im Verhalten von Frauen und Männern, da erstere meist eher höhere Östrogenproduktion sowie Konzentration und bei den zweitgenannten eben das gleiche für Testosteron gilt. Dazu kommt noch, dass es sich jeweils anders auswirkt, also scheinbar auch die Rezeptoren verschieden arbeiten.
Und nun kommt noch eine weitere Stufe der Komplexität hinzu, nämlich das Hormone, Umwelt, etc… sogar die Genetik beeinflussen und zwar nicht im Sinne von über Generationen, sondern teils sofort und sogar auf z.B. Embryos im Körper der Mutter (siehe z.B. Schwangerschaftsdiabetes).
Das alles wäre kein Problem wenn mir mit diesen Themen sachlich und vernünftig umgehen, aber die Realität ist eben eine andere. Es wird politisch wie auch ideologisch missbraucht, Fakten verdreht oder verkürzt dargestellt. Kontextfrei in den Raum geworfen, usw. Es gibt auch sehr viel Scharlatane, die ihre Vorstellung als wissenschaftliche Fakten darstellen. Als das passiert natürlich auch in allen anderen Lebensbereichen, aber das macht es ja nicht besser.
März 10th, 2017 at 07:36
Umdenker: Ergänzend zu Deinem Kommentar möchte ich auf den relativ jungen Wissenschaftszweig der Epigenetik hinweisen. Epigenetik ist die Wissenschaft vom Stummschalten, Reaktivieren und Aktivieren (z. B. Durch Noxen und Toxine) von Genen durch eine dauerhaft veränderte Lebensweise.
Ob Klima, Sport, Dauerstress, Gefühle, Hunger oder ständige Überernährung – Einflüsse aller Art können Säugetierzellen epigenetisch programmieren und ihre Funktionsweise dauerhaft verändern. So werden z. B. beim Nikotinkonsum mit jedem Zug aus der Zigarette 300 verschiedene Gene negativ getriggert.
Der spanische Krebsforscher Manel Esteller wies in einer Studie über eineiige Zwillinge im Alter von drei bis 74 Jahren nach, dass sich deren genetische Markierungen mit zunehmendem Alter unterscheiden. Ein Hinweis darauf, dass sich die Unzertrennlichen im Laufe der Zeit nicht nur psychisch voneinander emanzipieren, sondern auch körperlich auseinander entwickeln. Diese Erkenntnis ist das Gegenteil von dem, was man noch vor 100 Jahren über Zwillinge zu wissen glaubte.
März 10th, 2017 at 11:18
Über die in #7 und #8 beschriebenen Dinge und deren Auswirkungen auf das Strafrecht, hatte ich letztes Jahr einen hervorragenden Artikel in einer Biologie-Zeitschrift gelesen. Leider ist er, falls überhaupt online verfügbar, hinter einer paywall für die Abonnenten versteckt.
Die revolutionäre Aussage war, dass vieles im Strafrecht geändert, ja sogar ersatzlos abgeschafft gehörte, wollte man naturwissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung tragen.
Die These, der Mensch sei frei in seinen Entscheidungen, ist jedenfalls längst nicht mehr haltbar. Wie das Mischungsverhältnis biologischer vs. soziologischer Einflüsse jedoch genau aussieht, darüber wird man noch lange streiten.
März 10th, 2017 at 11:27
I mean, was soll ich von einem Strafrecht halten, das eine “Schwere der Schuld” abwägt und an “niederen Motiven” festhält, die einst kennzeichnend für rassisch Minderwertige waren? Da kann man froh sein, dass jenseits der Mythologie doch noch ein paar echte Aspekte von Rechtsstaatlichkeit berücksichtigt werden.
p.s.: Übrigens auch interessant, wie unterschiedliche Ideologien eine Prädisposition unterscheidlich bewerten: Wo heute “strafmildernd” festgestellt wird, dass einer nicht anders könne, wurde er dunnemals dafür erst recht aufgeknüpft.