Solidarität kam im Kapitalismus endgültig unter die Räder. Das ist kein Zufall. Nicht nur sind Parteien, die sie sich auf die Fahnen geschrieben haben, inzwischen rechts abgebogen, sie hatten ohnehin schon immer nur solche Formen von Solidarität im Auge, für die man einer großen Organisation angehören musste. Es war die Arbeiterpartei, die Gewerkschaft, die Sozialkasse, der man angehörte; amtlich mit Unterschrift und Stempel. Solidarität ist dort Verwaltung.
Gelebte und direkt erlebte Solidarität wäre etwas anderes. Sie wäre das Kollektiv, dem man freiwillig und gleichberechtigt angehört. Selbstbestimmt Ziele verfolgen, Zeit verbringen und sich umsorgen, das wäre die Stärke eines Kollektivs, in dem jeder mitbestimmen kann und sich auskennt. Diese Form der Gesellschaft wäre urdemokratisch.
Der Moloch
Ehe ich den Blick auf die Möglichkeit und Wirklichkeit solcher Kollektive richte, will ich zunächst den Ist-Zustand beschreiben. Kapitalismus und das wirtschaftsliberale Weltbild, das ihm zugrunde liegt, kennt keine Kollektive, sondern im Gegenteil nur gesellschaftliche Formationen, die denkbar weit davon entfernt sind. Gefragt und gefeiert sind hier die Einzelnen, vorgeblich freie Individuen einerseits und Korporationen anderseits. Diese sind hierarchische Gebilde mit Befehlskette, die einem Zweck dienen, mit denen die Einzelnen nichts zu tun haben.
Zudem entwickeln sich solche Korporationen zu immer größeren Riesen, die niemand mehr überschaut. Flankiert wird diese Entwicklung ‘privater’ Organisationen von zentralistischen Staaten, in denen eben eine Führungsebene jederzeit die Entscheidungen und Interessen der Vielen überstimmen kann. Diese Staaten wiederum schließen sich zu noch größeren Konglomeraten zusammen (EU, NATO, ‘Freihandelszonen’).
Hier hat niemand mehr etwas mit sich zu tun, schon gar nicht mit seinem Nachbarn. Es ist Befehl und Gehorsam, Hire and Fire, fremdbestimmtes Arbeiten für einen äußeren Zweck, Zwang. Moralisch wird hingegen stets der Einzelne für sein Tun und Gelingen verantwortlich gemacht, und zwar um so drängender, je weniger Einfluss er tatsächlich hat. Wer aus dem System fällt, wird zum Objekt eines gigantischen Versicherungsapparates, der unter anderem die Aufgabe erfüllt, den Menschen, die der Solidarität bedürfen, dafür eine unverzeihliche moralische Schuld aufzubürden.
Durch die Maschen
Das ökonomische und soziale Netz (wobei „sozial“ hier nicht meint, dass jemand Hilfsgelder bekommt, sondern die konkrete gegenseitige Hilfe) ist dem entsprechend absurd großmaschig. Es gibt überhaupt keine Einheit mehr, keine relevanten gesellschaftlichen Gruppen, in denen sich Menschen aufeinander beziehen können. Immer noch hat Thatcher recht: There is no such thing as society. Vor nichts hat der Kapitalismus mehr Angst, darum kennt sein Narrativ Kollektive auch nur als willenlose “Borg” oder Zwangsgemeinschaften einer Diktatur.
Die Hoffnung auf eine zukünftige überlebensfähige Gesellschaft muss aber darauf Gründen, dass sich solidarische Gruppen, Einheiten, Zusammenschlüsse bilden, in denen Solidarität gelebt werden kann, in denen man sich kennt, gemeinsam entscheidet und sich gegenseitig trägt. Das größte Problem daran ist, neben dem Totalausverkauf der Welt, in der alles, was man braucht, schon irgendeiner großen Firma gehört, dass die Menschen gar nicht mehr wissen, wie man miteinander arbeitet, entscheidet und lebt. Dieses Manko muss behoben werden.
November 14th, 2016 at 08:33
[...] Anderswo pocht flatter auf die Solidarität („Alles / was uns fehlt / ist die Solidarität“), schrummschrumm, punktgenau pfeifen die immergleichen „Grünen“ auf alte Zöpfe und heißen den Klassenfeind herzlich willkommen: Dieter Zetsche („Daimler-Chef“, „SPIEGEL ONLINE“) sprach auf deren Parteitag und plötzlich erscheint eine Koalition der Billigen aus „Grünen“ und F.D.P. nicht mehr so abwegig wie noch vor wenigen Jahren. Tempora mutantur. [...]
November 14th, 2016 at 09:13
“Moralisch wird hingegen stets der Einzelne für sein Tun und Gelingen verantwortlich gemacht, und zwar um so drängender, je weniger Einfluss er tatsächlich hat.”
Noch so ein Satz, der für mich absolut zentral ist! Bei jedem Missstand wird heute die unsägliche Eigenverantwortung ausgerufen. Und das umso lauter bei Problemen und Strukturen, wo der Einzelne de faktisch wirklich gar nichts an seiner Situation verbessern könnte. Und das Absurde: alle machen mit.
Heute ist wohl der Tag, der Merk-Sätze, nachdem Andreas von Duckhome noch so eine treffende Pointe rausgehauen hat:
“Was die Mächtigen nicht gedruckt sehen wollen, das ist eine Nachricht. Alles andere ist Propaganda.”
November 14th, 2016 at 12:50
Dann recycle ich hier mal einen meiner aktuellen Liberalismus-Texte: ;)
Das moderne Welt- und Menschenbild allerdings ist ein trauriges und fatales: der Mensch befindet sich im permanenten Krieg mit zum ersten einer feindlichen, missgünstigen Natur und zum zweiten allen anderen, ebenfalls missgünstigen und auf ihre maximale jeweilige Freiheit bedachten Menschen. Abwertung und Ausgrenzung, Ausbau von Herrschaftsstrukturen etc sind da eine nur zu logische Folge, und so etwas wie Allgemeinwohl eben nur noch denkbar als Aufsummierung von Einzelbefindlichkeiten, eben dem ‘größtmöglichen Glück der größten Zahl’. Die liberale Gesellschaftskonstruktion ist nichts anderes als der Versuch, diesem permanenten Krieg einen institutionellen Rahmen zu verschaffen – und ihn im Ergebnis damit festzuschreiben.
Solange wir uns nicht fragen, wie wir aus dieser fatalen Nummer wieder rauskommen, ein Mit- statt nur eines Neben- oder gar – je entfesselter der Markt – Gegeneinander begründen, solange werden selbst solch vermeintlich grundlegenden Fragen wie die ‘Eigentumsfrage’, auch die berühmte ‘Systemfrage’ zu nichts wirklich Neuem führen. Der ‘real existent gewesene Sozialismus’ legt, wie ich meine, beredtes Zeugnis davon ab.
Wie also könnte man den Liberalismus ‘aufheben’, ohne in Illiberalismus zu verfallen? Ich denke wirklich, dass wir uns zuallererst um einen neues Selbst- und Weltbild kümmern müssten, und erst darauf ein neues ‘Narrativ’ gegründet werden könnte.
November 14th, 2016 at 15:09
@ Peinhart: Dein Ansatz gefällt mir! Wo schreibst du sonst so, darf man das wissen?
November 14th, 2016 at 15:57
OT: Die Spacken vom Spon haben mal wieder alles gerafft und nennen die Inzucht bez. Steinmeier “Zeichen gegen den Trumpismus“. Die pullen einen Hillary Turbo, ziehen den Kreis um die neoliberale Scheißequelle immer enger, und der Journall jubelt “Lavendel!”. Vielleicht rufe ich bei nächster Gelegenheit zur Wahl der AfD auf.
November 14th, 2016 at 17:17
“Vielleicht rufe ich bei nächster Gelegenheit zur Wahl der AfD auf.”
yep. ich hab mich heute auch schon bei solchen gedankengängen ertappt.
November 14th, 2016 at 18:45
@JuergenF: Stay tuned. ;)
[dh zu diesem Thema habe ich auch hier noch ein bisschen was abgesondert]
Gegenfrage – was genau gefällt dir an dem Ansatz…?