Steinmeier und die Inquisition der NATO
Posted by flatter under geostrategie , narrativ[19] Comments
23. Jun 2016 14:39
Das gängige Bild von der Inquisition ist das der Eisernen Jungfrau, Torturen und grausamen Hinrichtungen, aber Inquisition bediente sich im Regelfall ganz anderer Mittel. Die Anfänge liegen vermutlich im beginnenden Spätmittelalter, die Exzesse der Hexenverfolgung, die oft mit der Inquisition verwechselt werden, in der Neuzeit. Dabei waren übrigens Protestanten besonders eifrig, deren Vorgehen mit der Inquisition wiederum gar nichts zu tun hatte.
Inquisition war ein mehrstufiges Verfahren, um insbesondere Ketzer in den Schoß der Kirche zurück zu holen. Es ging darum, deren Wirkung einzudämmen, was in der nämlichen Zeit eine wichtige Säule des Machterhalts für den Klerus darstellte. Dessen geschlossenes Weltbild war durch neue Erkenntnisse, Techniken und die sich allmählich formierende Wissenschaft bedroht. Es gab da ein Denken, das die Religiosität und damit die Autorität im Kern erschütterte. Das musste im Zaum gehalten werden.
Die Mittel dazu waren zunächst der Besuch von dafür ausgebildeten Geistlichen, Gespräche und Befragungen (daher auch der Name). Die Verdächtigen wurden zur Ordnung gerufen und ermahnt. Sie wussten in der Regel schon, was ihnen drohte, wenn sie der Mahnung nicht nachkämen. Dabei war die Möglichkeit des Ausschlusses aus der Kirche gemeinhin nicht weniger beängstigend als das letzte Mittel, Folter und Tod (meist durch weltliche Gerichte).
Zurück ins Glied
Herr Steinmeier hat jüngst auf recht zurückhaltende Weise darauf aufmerksam gemacht, dass eine Konfrontation mit Russland nicht ungefährlich ist. Dabei hat er sogar brav den Dicsclaimer aufgesagt, dass er gar nicht die aktuellen Manöver der NATO infrage stellt. Egal, sie springen sofort aus den Büschen, die Bündnistreuen und sind “empört”. Er schwäche die NATO, so CDU und Medien, er erfreue die Linke und man dürfe jetzt “Keine Nachgiebigkeit gegenüber Putin” zeigen.
Ich zitiere im Folgenden aus einer unvollendeten Arbeit, an der ich gerade tippe, es geht um die 80er Jahre und das Original des Kalten Krieges:
“
Auf den Punkt illustriert ein Artikel des “Spiegel” aus 1983 das Narrativ, in dem die Reaktionen auf eine Kritik dieses Irrsinns durch den Oberbürgermeister von Saarbrücken aufgezeichnet sind. Der hieß seinerzeit Oskar Lafontaine und hatte gesagt: „Leute, die einen Atomkrieg für führbar und gewinnbar halten, die können niemals unsere Bündnispartner sein. Das sind Verrückte. […] Es gibt Bedingungen, zu denen eine Mitgliedschaft in der Nato nicht mehr tragbar ist, das heißt, wenn diese Nato uns auf ein Pulverfass setzt, bei dem die Lunte gleich mitgezündet wird.“
Lafontaine hatte also deutlich gemacht, dass er es für Irrsinn hielt, eine „Partnerschaft“ zu pflegen, bekannt als „Deutsch-Amerikanische Freundschaft“, in der einer den anderen in einem Atomkrieg der Vernichtung preisgibt. Hier nun zeigte sich die geballte Kraft des Narrativs, denn selbst um den Preis der Vernichtung Europas oder der Welt durfte nicht angezweifelt werden, was im Glaubensbekenntnis stets wiederholt wurde. So sprang nicht nur die bürgerliche Presse auf und stellte (durch die Springerpresse) fest, Lafontaine stehe den Sowjets jetzt näher als den „Freunden“, es war auch der Fraktionsführer und Kanzlerkandidat Hans-Jochen Vogel, der sofort öffentlich die „Bündnistreue der SPD“ erklärte und deutlich machte, Lafontaines Kritik sei “nicht mehrheitsfähig”.
Im Westen nichtes Neues
Die deutsche Sozialdemokratie stand treu bis in den Tod zu USA und NATO. Der totale nukleare Krieg wurde ebenso wenig infrage gestellt wie die strategischen Interessen, die hinter dem Kalten Krieg standen. Überhaupt ist die SPD zu jeder Zeit die Repräsentanz der deutschen Schizophrenie gewesen. Motto hier: Wir wollen die Vernichtung Europas kritisch begleiten, aber dafür nicht den Kommunisten in die Hände spielen. Obwohl Deutschlands Funktionäre treu bis zum Suizid den neuen Herren dienten und die gewählten Parlamentarier zu 100% mitzogen, obwohl die Medien dem nur äußerst sporadisch etwas entgegensetzten und vielmehr entschieden die NATO-Doktrin propagierten, schloss sich das Volk immer noch nicht der Militärpolitik an. Eines der faszinierendsten Momente in der ungebrochenen Einstellung dieses schrägen Volkes ist der Unwille Krieg zu führen. “
Im Westen nichts Neues. Wer auch nur den leisen Verdacht erweckt, aus der Glaubensgemeinschaft auszuscheren, dem wird sofort die Inquisition geschickt. Zurück in die Reihe, wenn du einer von uns bleiben willst! Die Funktionäre und Eliten, diejenigen, die Zugang zur medialen Öffentlichkeit haben, werden eingeschworen und überwacht, dass sie stets in Treu und Glauben handeln. Draußen wurde dieser Wahn nie angenommen. Seit Jahrzehnten will niemand mehr dem Ruf zu den Waffen folgen, und Feinde haben wir auch keine. Aber so ist das mit dem Klerus, der braucht manchmal ein paar hundert Jahre, um sich mit einfachen Erkenntnissen anzufreunden. Bis dahin müssen sie die Welt halt ein paar Mal anzünden.
Juni 23rd, 2016 at 16:20
. Die Anfänge liegen mit Sicherheit im späten Mittelalter. Frühes Mittelalter ist die karolingische Zeit. Beginnendes Mittelalter die Zeit nach dem Untergang des Weströmischen Reiches.
Juni 23rd, 2016 at 17:01
Völlig richtig, ich meinte auch Spätmittelalter (13. Jhdt.). Ist korrigiert, danke!
Juni 23rd, 2016 at 17:05
>>> “Zurück in die Reihe, wenn du einer von uns bleiben willst!” lese ich.
Vermute aber eher, dass es sich um kalkulierten Rückzug in die Bedeutungslosigkeit handeln wird, wo man Honorare für bedeutungslose Vorträge, so wie eingepreist, korrekt versteuert.
Unter der Nachrückergilde entsteht ein kurzes Gedränge, das der/diejenige mit der schrillsten Vuzuela für sich entscheidet, mit der er/sie dem Russen in Gestalt des Putin den Marsch zu blasen vermag. Putin, jeder Blinde sieht doch, wie du einmarschbereit vor Polen, Estland, Andorra, vor der Welt und Litauen lauerst. – Wieso Andorra? Auch das weiß ich nicht.
Ich hoffe, ich habe aufzeigen können, dass der Russe hinter seiner Kulisse ein massives Wachstumsproblem hat.
Juni 23rd, 2016 at 17:37
“Eines der faszinierendsten Momente in der ungebrochenen Einstellung dieses schrägen Volkes ist der Unwille Krieg zu führen.” – So will’s mir scheinen (und so mag’s auch bleiben, dann gern auch das schräge ohne das dumpf nationale), besonders seitdem seit märz 2013 die antirussische propaganda immer heftiger und nahezu täglich von den medien abgefeuert wird und jetzt, nachdem das “schräge volk” der herstellung von kriegsbereitschaft ums verrecken nicht folgen will, voller verzweiflung die kampfzone nach dem ESC auch auf alle sportarten und mal sehen, was noch, ausgeweitet wird (eishockey vielleicht ausgenommen, da brauchen die nordamerikanischen clubs die russischen spieler für den Stanley-Cup)
Da kann der ‘russe’ machen, was er will – böse, böse, bööööse.
Ach ja: und den hier von Michail Kalatosow hätte man zum 75.jahrestag mal wieder im fernsehen zeigen können: “Well, I suppose life in this world of ours is not yet what we would like it to be.” (Fjodor Iwanowitsch Borosdin)
Juni 23rd, 2016 at 22:16
Mich wundert, dass Merkel nicht der gleiche Shitstorm ereilt. GFP zitiert sie folgendermaßen: Die “Verteidigungsfähigkeit” der EU genüge “noch nicht”, um “alleine” die militärische Sicherheit “in unserem eigenen Gebiet” zu gewährleisten, erklärt Merkel; noch sei man auf die NATO angewiesen. Ich meine, dass man sowohl in dieser Rede Merkels wie in Steinmeiers Aufsatz in Foreign Affairs recht deutliche Absetzbewegungen von den USA finden kann, auf jeden Fall aber so etwas wie eine seltsam anmutende Mahnung, weniger das, was zB die NDS meinen: nur selten finde[] man so deutliche Belege dafür, dass unsere Bundeskanzlerin von den USA geführt wird. Nur weil sie den Satz von 3,4% des BIP, die ‘Latte’ der USA, als Referenz anführt, und nicht ‘nur’ die von der NATO geforderten 2%. Da kann man gerne Größenwahn attestieren, aber hündische Ergebenheit…? Ich muss zugeben, dass ich recht verwirrt bin, nicht zuletzt wegen der dissonanten Begleitmusik. Das ist doch sonst besser orchestriert…
Juni 23rd, 2016 at 22:42
Ja, ich versuche auch, Sinn in das ganze Chaos zu bringen, aber es gelingt mir nicht. Dabei weiß ich doch immer alles ;-)
p.s.: Ich gucke gerade einen Film über die McCarthy Ära. Es ist wohl recht schwierig, Politik zu organisieren, wenn der Feind simuliert wird. Die Propganda geht schwer nach hinten los, wenn man ihr hinterher rennt und dauernd wieder einfangen muss. Flip-Flop überzeugt nicht bloß niemanden, es überredet schon niemanden mehr.
Juni 23rd, 2016 at 23:31
Ich lese bei Peinhart:
>>> Ich muss zugeben, dass ich recht verwirrt bin…
Ich lese bei flatter:
>>> Ja, ich versuche auch, Sinn in das ganze Chaos zu bringen, aber es gelingt mir nicht. Dabei weiß ich doch immer alles ;-)
Was mich betrifft, ich weiß, dass ich nichts weiß und versuche trotzdem zu verstehen, warum ich nichts verstehe.
Könnte man daraus nicht eine Bewegung machen?
Juni 23rd, 2016 at 23:54
Eine (neuerliche) Lektüre von C. Wright Mills’ ,”The Power Elite”, (Erstpublikation vor genau 60 Jahren), könnte vielleicht etwas Licht in die Angelegenheit bringen, auch wenn das natürlich auf die damalige amerikanische Situation, die sich aber in dieser Hinsicht nur wenig – und wenn, dann zum schlechteren – verändert hat, bezogen ist.
P.S.: Lese gerade sein “The Sociological Imagination” – vor 14 Tagen bestellt und eben angekommen, und das nach der Lektüre von Norbert Elias’ “Was ist Soziologie?”. Beides sehr zu empfehlen!
Juni 24th, 2016 at 08:10
OT: Brexit! Interessante Zeiten…? In diesem Lichte sieht Merkels/Steinmeiers ‘Wir können auch anders’ bzw ‘alleine’ schon etwas anders aus. Vor allem erstmal noch gefährlicher…
Juni 24th, 2016 at 11:01
Ich lese, dass jetzt die Rechten Aufwind bekommen und überhaupt nur Nationalisten gegen die EU sein können.
Außer Augstein, der schreibt ernsthaft “Nie wieder Ungerechtigkeit”. Genau, und mehr Weltfrieden und sofort Love and Piece.
Der Radiomann drohte derweil mit Boris Johnson (Übertroll) als PM. Dann würde ich glatt noch aus GB austreten.
Juni 24th, 2016 at 11:54
Ein dicker Mann namens Gabriel hat mich gerade überzeugt, dass man nach vorne schauen muss. Wo das ist, hat er indes nicht gesagt. Falls jemand was weiß…
Juni 24th, 2016 at 12:02
Dann würde ich glatt noch aus GB austreten.
Das werden sich die Schotten und Nordiren wohl auch denken.
Love and Piece
:D
Juni 24th, 2016 at 12:21
Ihr roten Libanesen!!11
Juni 24th, 2016 at 13:28
Meine Fresse; “Charismatisch, volksnah, scharfzüngig – mit diesen eher unbritischen Eigenschaften hat Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson die Brexit-Kampagne zum Erfolg geführt. Jetzt bietet er sich als quasi natürlicher Nachfolgekandidat für Cameron an.” sagt der Tagesschau-Hansel. wir reden immer noch von dem hier. Volksnah! *kotz*
Juni 24th, 2016 at 13:58
OT: Bernie Sanders will Clinton wählen
Bei den US-Demokraten ist eine Vorentscheidung über die Präsidentschaftskandidatur gefallen. Bernie Sanders wird bei der US-Präsidentenwahl im November Hillary Clinton wählen.
Nach Briten-Referendum: SPD für Neugründung Europas
Ist Größenwahn eigentlich eine notwendige Bedingung, um Politiker zu werden?
Juni 24th, 2016 at 14:06
Der hat die aber auch ganz gut vor sich her gescheucht.
Juni 24th, 2016 at 14:27
“Die Politik müsse die Begeisterung für Europa wieder wecken” Politik und Begeisterung, das meinen die Ernst, und zwar ausgerechnet die begeisternden Sozen. Gucken wir doch mal, wie sie das hinkriegen wollen:
“eine gemeinschaftliche Wachstumsoffensive“,
“Änderungen beim Stabilitäts- und Wachstumspakt”
“die Wachstumskomponente des Pakts innerhalb und außerhalb der Eurozone stärken”
“Ökonomische Prosperität und soziale Gerechtigkeit“-
Ah, Wachstum und Wohlstand. Geniale Idee, ich sehe schon die Massen mit Fähnchen an den Straßenrändern stehen.
Juni 27th, 2016 at 13:34
Manchmal habe ich das Gefühl, was die Aufklärung im naturwissenschaftlichen Bereich war (und richtig Fahrt zur Zeit von Newton und Co. aufgenommen hat), das bräuchte es jetzt in Sozialwissenschaften. Kein Wunder das die Leutz immer noch dem Narrativ des NATO Konglomerats Glauben schenken. Da gibts noch reichlich Bildungslücken. Gefühlt ist es von der Allgemeinbildung her bei der Masse so:
Naturwissenschaften: Note 3+
Sozialwissenschaften: Note 5
Neurowissenschaften: Note 6
Wir benötigen quasi eine Aufklärung 2.0, denn irgendwie ist der ganze Prozess ein wenig ins Stocken geraten.
Juni 27th, 2016 at 14:00
Chefredakteur heute so: Ihr vier macht jeweils was über Götz George, ihr fünf was ber Brexit und ihr sechs jeweils zwei zum Fußball. Die Freien können dann was über den uninteressanten Rest einreichen.