Das deutsche Narrativ (6): Frieden und Freiheit
Posted by flatter under narrativ[21] Comments
01. Feb 2015 22:03
Das Problem des NATO-Doppelbeschlusses und die damit verbundene Tatsache, dass sich der noch immer nicht gebrochene Kriegsunwille – zumal unter den Bedingungen des nuklearen Overkills – gegen den amtierenden Kanzler Schmidt richtete, ist die Randerscheinung einer epochalen Verschiebung im Narrativ. Noch ein letztes Mal bringt sich zwar der Antikommunismus in Stellung und dominiert die politischen Entscheidungen gegen den Willen der Mehrheit (denn Kohl ist wahrlich nicht pazifistischer als Schmidt). Wichtiger aber ist das neue Thema, das die nächsten Jahrzehnte beherrschen wird: “Arbeitsplätze” als Titel für den Umbau von Staat und Wirtschaft zur Rettung der Profite.
Unter dem falschen Etikett einer “Geistig-moralischen Wende” wurde mit dem Lambsdorff-Papier tatsächlich etwas völlig anderes zur Leitlinie: die neoliberale Wende. Mit diesem, später durch das “Schröder-Blair-Papier” aktualisiert, orientierte sich das künftige Narrativ an einem Manifest. Im übrigen hatten natürlich die Berater Reagans und Thatcher den Zug bereits aufs Gleis gesetzt. Sozialstaat war out, das Wirtschaftswunder beendet und mit “Massenarbeitslosigkeit” und “globalem Wettbewerb” Gründe für die Aufkündigung des Gesellschaftsvertrags im großen Stil geliefert. Dass bald darauf der Eiserne Vorhang fallen würde, war aus der Sicht der Architekten des Neoliberalismus ein Geschenk des Himmels.
Die “Wende”
Während Kohl seine “Freundschaften” zu allen Staatsmännern der Welt feierte, Reagans Hand über den Gräbern von SS-Leuten hielt, andererseits den ‘Sozialisten’ Mitterrand ins Herz schloss und die “Europäische Einigung” zur Chefsache machte, brachte Präsident von Weizsäcker den Umgang mit der Nazi-Vergangenheit zum Abschluss. Mit der Formel, das Kriegsende sei eine “Befreiung” gewesen und dem Fokus auf die Juden als Opfer des Holocaust fand er den Weg, das Unvermeidliche einzuräumen, das Missliebige weiter zu leugnen und die neuen Herren weiter zu konsolidieren. Deserteure und Kommunisten wurden weiterhin nicht als Opfer des Terrors wahrgenommen, auch andere Gruppen nicht (z.B. Sinti, Roma, Homosexuelle). Kommunisten bekamen keine Pension, im Gegensatz etwa zur Witwe von Roland Freisler.
Dass die meisten Nazis schlicht zu Demokraten erklärt worden waren und die Republik gemeinsam mit den “Befreiern” steuerten, blieb unerwähnt. Als Befreier galten selbstredend die Westalliierten, nicht etwa diejenigen, die Auschwitz wirklich befreit hatten. Natürlich wurde auch das von den Rechten noch als Zumutung empfunden, denn die Anerkennung der Grenzen und der Verzicht auf Revanchismus war aus deren Sicht nicht einzusehen. Dieser bis dahin einflussreichen Minderheit musste von oben deutlich gemacht werden, dass der Krieg wohl vierzig Jahre zuvor verloren worden war.
Das vor allem wirtschaftliche Zusammenrücken der EU mit dem Fluchtpunkt “Euro”, der Neoliberalismus und die Treue zu den USA ergaben ein Paket, das den seit Mitte der 70er Jahre sinkenden Profitraten Abhilfe schaffen sollte. Die Republik rutschte erheblich nach rechts. Da man nicht jeden Gewerkschafter zum Kommunisten stempeln konnte oder jeden, der sich über sinkende Reallöhne und Einschränkungen der ‘Arbeitnehmerrechte’ beschwerte, fiel allmählich die alte sozialdemokratische Domäne aus dem Narrativ: die Beteiligung am Wohlstand, sprich der Produktivität. Wer mehr wollte, war ein Kommunist, da war man sich einig gewesen, wie aber tabuisiert man das bislang Akzeptierte?
Das Ende des Antikommunismus
Das Tabu wurde neu ausgerichtet, zunächst durch die schiere Arroganz der Macht, optimal verkörpert von Margaret Thatcher. Das TINA-Prinzip war geboren, “There Is No Alternative“. Der Wettbewerb, die Globalisierung, die hohe Arbeitslosigkeit zwangen die Politik vermeintlich dazu, Sozialabbau und Lohndumping, “Privatisierung” und “Deregulierung” zu fördern. Die bisherige innerkapitalistische Alternative wurde als “Schuldenmachen” verunglimpft, die schon bald sichtbaren Ungleichgewichte sanktioniert, indem sie zum Resultat von “Leistung” verklärt wurden, und sozialer Ausgleich hieß fortan “Gleichmacherei”.
Während der Staatssozialismus im Osten sich zerlegte, wurde im Westen der Antikommunismus zugunsten einer radikalen pro kapitalistischen Agitation ad acta gelegt. Man konnte es sich sogar leisten, den Oberkommunisten und Chefrussen Gorbatschow zu bejubeln, der zuvor noch vom Bundeskanzler mit Goebbels verglichen worden war. Zementiert wurde diese neue Ordnung 1990 mit der “Wiedervereinigung”.
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Februar 2nd, 2015 at 00:01
Also soweit ist die ganze Serie Zustimmungsfähig, mehr als das, sie gefällt mir extrem gut. Jedoch an einer Stelle hätte ich einen Einspruch. Du sprichst im in diesem teil im zweiten Absatz von der »Aufkündigung des Gesellschaftsvertrag« im Zusammenhang mit der neoliberalen Wende rund um die Neunziger. Da ist sicher auch was dran, ich will auch nicht die bedeutende Veränderung des gesellschaftlichen Klimas in diesem Zeitraum Frage stellen. Jedoch will ich mit Foucault’s “Geburt der Biopolitik” den Neoliberalismus früher beginnen lassen, und damit vielleicht das Narrativ noch etwas radikalisieren.
»Die Geschichte hatte den deutschen Staat verneint. Künftig wird die Wirtschaft in der Lage sein, seine Selbstbehauptung zu ermöglichen« schreibt er dort (a.a.O. 126). Foucault zeichnet nach, wie der deutsche Staat auf dem Neo-/Ordoliberalismus begründet wird. Ich will nicht die ganze Geschichte Spoilern, sondern eine zentrale Stelle (ebd. 124) herausheben:
»Diese Institution der Wirtschaft, die wirtschaftliche Freiheit, die diese Institution von Anfang an sichern und aufrechterhalten soll, erzeugt etwas Wirklicheres, Konkreteres, etwas noch unmittelbares als eine Legitimation von [Natur-]Rechts [Stichwort Gesellschaftsvertrag] wegen. Sie erzeugt einen permanenten Konsens, einen permanenten Konsens all derer, die als Handelnde innerhalb der Wirtschaftsprozesse auftreten können.«
Was ich damit sagen will: der Vertrag wurde nicht gekündigt, sondern erneuert, oder gereinigt, gereinigt von all den keynesianischen Verunreinigungen. Sicher ist da eine Veränderung, Verschiebung im Spiel, aber eben nichts neues, oder Aufkündigung des alten, sondern die schon lange gültigen Regeln des Spiels werden auf den Tisch gelegt. Regeln, die zB ermöglicht haben, einen Staat, der verneint worden war, wieder bejahen zu können, ohne die blöden Nazis ernsthaft entfernen zu müssen.
Februar 2nd, 2015 at 00:32
Dem kann ich durchaus im Kern zustimmen, aber ich bewege mich hier so konsequent ich kann (gelingt mir wahrlich nicht immer) auf der Oberfläche. Foucault hat sich mit Interpretationen dieser Art meist sehr zurückgehalten, ich will das vorläufig auch tun und weiß selbst nicht, wohin mich das führt.
Im Kontext des Zitates mache ich die Wende, den Bruch an der Oberfläche, da aus, wo die Arbeiterschaft fortan nicht mehr zu denen gehört, die “als Handelnde innerhalb der Wirtschaftsprozesse auftreten können.” Das sind fortan nur noch deren korrumpierte vermeintliche Vertreter.
edit: Dass die Arbeiter auch vorher nur vermeintlich handlungsfähig waren, würde ich gar nicht leugnen, es wird ihnen aber mit dieser Wende offen erklärt. Das ist die Änderung im Narrativ.
edit 2: Nach dem 4. Lesen (bin abgelenkt) sehe ich, dass wir uns da völlig einig sind:
“die schon lange gültigen Regeln des Spiels werden auf den Tisch gelegt.”
Yapp, genau das ist neu, dass sie (in diesem Aspekt, noch lange nicht in jedem) auf den Tisch gelegt werden.
Heißen Dank für diesen Kommentar!
Februar 2nd, 2015 at 08:48
Da möchte ich mich auch noch anschliessen, finde aber die Formulierung ‘Aufkündigung des Gesellschaftsvertrages’ schon wegen dieser – für das allgemeine westliche Narrativ zentralen und mE grundfalschen – Figur des ‘Gesellschaftsvertrages’ an sich problematisch. Ich habe es zwar ohnehin schon mit virtuellen Anführungszeichen gelesen, aber wenn es, wie ich annehme, auch so gemeint war, würde ich sie vielleicht doch noch sichtbar machen.
Februar 2nd, 2015 at 11:26
Dieser Vertrag wurde besungen, kaum je geschlossen; der fleißige deutsche Arbeiter® hatte sich den Wohlstand® verdient®. Schriftlich gab man ihm das eine Zeitlang per Tarifvetrag, bis die Herren auf der anderen Seite die Axt erfolgreich gegen die Gewerkschaften geschwungen haben. Ich finde, der Begriff ist haltbar.
p.s.: Wenn der Begriff wirklich “zentral” ist fürs Narrativ, komme ich ohnehin nicht dran vorbei ;-)
Februar 2nd, 2015 at 11:29
@flatter: “Das sind fortan nur noch deren korrumpierte vermeintliche Vertreter.”
Politik – Gewerkschaft – Betriebsrat?
Meinst du diese, und, gilt es da noch zu differenzieren*, oder ist das mittlerweile nicht eh die gleiche Mischpoke die nurmehr vermittelnd/-klärend ihre jeweilige Rolle im sukzessiven gesellschaftlichen Umbau spielt?
*darüber hinaus, wer da vermeintlich forcierend vs. verlangsamend auf die Entwicklung Einfluß nimmt…
Februar 2nd, 2015 at 11:31
Zu differenzieren gibt es da ne Menge, an allen Ecken, aber wenn man das grob hält, schaut man sich die Tarifverhandlungen und Abschlüsse an, das spricht eine deutliche Sprache. So ein laues Lüftchen wie das der GdL neulich kann daher inzwischen zum V-Fall aufgebläht werden.
Februar 2nd, 2015 at 12:17
Kleine Blockade meinerseits, thx.
Februar 2nd, 2015 at 13:04
Schreib das Buch!
Februar 2nd, 2015 at 17:48
@2, 3, 4
Yo, der Schnitt oder Bruch kam Anfang der Achtziger als der Wohlstand in die Breite ging, die Nachfrage noch hoch aber die Produktivität soweit gestiegen war, dass das Kapital den Faktor Arbeit (die Arbeitnehmer bzw. deren Bedürfnisse*) immer weiter zurückdrängen konnte. Dann kam mit der “geistig, moralischen Wende”, der Verkabelung und einer wiedervereinigungsbefeuerten Blüte aus dem Stamm die “Voragenda-Zeit” … und der ganze Rest. Und natürlich wurde da niemals ein beidseitiger Vertrag geschlossen; ein Mythos, ein Narrativ wurde einseitig besungen (gefällt mir gut, flatters diesbez. Formulierung) und beschworen.
*Da sieht man ‘mal wieder wie blöde das Kapital ist: Es kennt Löhne als Kosten, nicht aber als Einkommen und somit Voraussetzung dafür, dass die Maschine läuft. Rechtsstaat und “Demokratie” als Voraussetzung aber nicht als Verpflichtung.
Februar 2nd, 2015 at 19:07
OT Der neue Titel vom Stürmer ist auch wieder ganz große Wochenschau. Wir sollten das Protektorat endlich einäschern!!1!
Februar 2nd, 2015 at 19:24
OT: Ich freue mich derweil, dass meine Jahre alten Vorhersagen Stück für Stück eintreten: Faz, Wann schließen die ersten Sparkassen?
Trinkt mehr Sekt! Oder geht die Steuer gar nicht an Heckler & Koch? Egal.
Februar 2nd, 2015 at 19:47
Schön ist doch auch, dass die Frau Doktor Merkel nun auch mal nach Ungarn fährt, um die da mal zur Ordnung zu rufen. Nicht etwa wegen der ganzen protofaschistischen Entwicklungen dort, nein, das geht alles unbeanstandet durch. Sondern wegen Russenkuscheln. Da ist ihr wohl auch schon wieder irgendetwas heilig… wie können die nur alle unserer Säulenheiligen so etwas antun? Wo sie sich doch für uns alle in Deutschland, in Europa, was sag ich, in der Welt, so abrackert! Fleischhauer!!1!
Februar 2nd, 2015 at 19:50
@Rainer – war Sekt nicht für die Flotte, die sich dann in Scapa Flow…? Prost!
Februar 2nd, 2015 at 19:51
Psst. Verrat’ doch nicht immer alles. Immer diese Realisten.
Februar 2nd, 2015 at 20:49
Hat das Meer dann auch so hübsche Bläschen geblubbert?
Februar 2nd, 2015 at 21:46
Aber ihr wisst ja: Don’t Mention the War!
Februar 2nd, 2015 at 22:44
Das ist hier ist genau das, was ich mir in meinem VT-Kopf so vorgestellt habe. Integere Leute werden wahrscheinlich mit irgend einem Dreck beworfen, wenn sie für höhere Ämter infrage kommen, während der Abschaum durchgeht und unbehelligt bleibt – damit man ihn auf Knopfruck manipulieren kann. (via fefe) Ich liebe Geheimdienste.
Februar 2nd, 2015 at 23:59
@flatta#10: ohmann.
#17: ächz. naja, mirror. gibts da andere quellen?
Februar 3rd, 2015 at 00:12
Mal abwarten, aber bei solchen Dingern habe ich einiges Vertrauen in die Redaktionen – ich meine deren Juristen.
Februar 3rd, 2015 at 10:45
OT: Euractiv: Griechischer Minister: “Syriza wird TTIP niemals ratifizieren”
Netzpolitik.org:
- Vorratsdatenspeicherung auf EU-Ebene: Kommission prüft neue Richtlinie – und Ausweitung auf Social Media
- Bundestag: Geschäftsordnungsausschuss mag unsere Berichterstattung aus NSA-Ausschuss nicht
Nachdenkseiten: Dauerbaustelle Sozialstaat – Chronologie gesetzlicher Neuregelungen in der Sozialpolitik 1998 – 2014
Februar 3rd, 2015 at 14:56
ot:
Consortium News: ‘Group-Thinking’ the World into a New War: neocon propagandists understand that in the modern American media the personal is the political, that is, you don’t deal with the larger context of a dispute, you make it about some easily demonized figure und diesen hier What Syriza’s Victory Means for Europe könnte man gleich anschließend lesen.