Moralischer Extremismus
Posted by flatter under politik , sozialzeugs[26] Comments
09. Jul 2020 15:53
Er ist das Symptom des Verfalls eines Gesellschaftsmodells, das sich eben auflöst. Das ist nichts Neues. Schon in einer der hoffnungsvollsten Epochen der Geistesgeschichte – der Renaissance, in der sich der Erkenntnisstau nach 1000 Jahren katholischer Unterdrückung entlud – explodierte ebenso der moralische Rigorismus, gingen Menschen aufeinander los mit einer Verachtung, die jede Grausamkeit legitimierte. Spanische Inquisition und Hexenverfolgung – bei der sich vor allem Protestanten hervortaten – waren die Begleiterscheinungen. Am Ende der kapitalistischen Rechtfertigungsversuche für die Weltherrschaft eines irrsinnigen Systems zeigen sich ähnliche Tendenzen.
Mit einem kleinen Schritt zurück komme ich noch einmal auf das Thema “Moral versus Ethik”: Ethik fragt wie gesagt danach, was in einer Gesellschaft erwünscht(es Verhalten) ist und was sie optimaler Weise tun kann, um dies zu erreichen bzw. das Unerwünschte zu hemmen. Dies ist eine grundsätzlich praktisch-wissenschaftliche Perspektive. Vor allem muss hierbei auf die Gesellschaft Bezug genommen werden, um die es geht. Es muss deutlich werden, was sie ist, wie sie funktioniert, wer dazugehört und wie man diese Menschen erreichen kann.
Ping-Pong
Das Gegenteil besorgt wie so oft Moral, zumal in ihren extremen Formen eines Rigorismus hier und einer autoritären Willkür dort. Sie zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sich ‘Erlaubtes’ aus dem ‘Guten’ ableitet, welches wiederum den handelnden Personen innewohnt. Bei den neuen Pietisten wohnt dieses Gute bestimmten Opfergruppen inne (Frauen, LGTBXY, Leute von Farbe etc.) denen ein moralisch hoher Status zugewiesen wird, während potentielle Täter (weiße Männer) per se abgewertet werden, was wiederum Auswirkungen auf deren Rechte haben soll. Klassische Diskriminierung wird hier beibehalten und die Liste der Diskriminierten und Diskriminierenden umgedreht.
Damit einher geht die Moralisierung der Diskurse, vor allem Politik und Wissenschaften. Diese Moralität wird von einer in allen Medien sehr präsenten, in der Bevölkerung aber kleinen Minderheit gepflegt. Sie ist der elendige Rest dessen, was heute noch als ‘Links’ identifiziert wird – vor allem von Rechten. Auf deren Seite wiederum hat sich die Komplementärmoral dazu durchgesetzt, die sich durch diesen Rigorismus angespornt fühlt. Intuitiv erkennen deren Vertreter, dass diese ‘linke’ Ideologie nicht nur inkonsistent und irrational ist, sondern dass man so nicht leben kann. Diese, ihnen verfeindete Moral ist eine aggressive Anleitung zur (Gegen-)Unterdrückung – und zwar der Mehrheit.
Daher kann die Rechte ihren Muff der eigenen Klientel ernsthaft als ‘Freiheit’ verkaufen, obwohl der selbst ebenfalls das Gegenteil bedeutet. Nicht nur dass er, weil er eben reaktionär ist, die Unfreiheit des Kapitalismus zementiert, sondern weil er Hierarchien, übelste patriarchalische Strukturen und alle überwunden geglaubten Übel von Feudalherrschaft bis Faschismus restauriert: Rassismus, Frauenhass und jede Form von Diskriminierung. Dabei darf der Chef jeweils alles und das kleine Arschloch gar nichts – außer es findet eines, das noch unter ihm steht.
Illiberal, kapitalistisch
Der ‘linke’ Rigorismus, der diese rechte Willkürmoral enorm stabilisiert, fühlt sich dadurch wiederum (weil eben dogmatisch) befeuert: Der Kampf muss noch härter geführt werden! Auf der Strecke bleibt zuerst jede rationale Auseinandersetzung. Zumal im Rahmen einer medialen Aufmerksamkeitsökonomie, kommen moderate Töne oder die Frage, wie man sich mit Anderen einigen könnte, nicht zur Geltung.
Völlig unter die Räder gerät eine grundsätzliche Kritik, die eben jener Rationalität bedürfte und die wirklich relevanten Probleme benennt. Der Kapitalismus als solcher gerät in der Folge völlig aus dem Fokus. Die Rechte wollte das noch nie anders und diese ‘Linke’ stimmt dem mehr oder minder schweigend zu. In dieser Konstellation kann sich keine (zumal linke) positive Zukunftsvision entwickeln. Was bleibt, ist alternativlose Dekadenz.
Juli 10th, 2020 at 14:30
Die von den Rechten so getauften “Linken” haben doch nichts am Hut mit linker Politik. Systemkritik wird doch eben durch die Identitätstpolitik (bzw. Spaltungspolitik) unterbunden.
Der modernen Feministin geht es doch nicht um die Mitarbeiterin im Lebensmittelhandel oder den weiblichen Pflegekräften. Diesen Leuten geht es um die höchsten Posten, die zu vergeben sind, um Sitze in den Aufsichts- und Verwaltungsräten. Das Prekariat dient nur als Staffage, eventuell noch als Argumentationshilfe, mehr nicht. Bei den europäischen Black Lives Matter-Ablegern oder FfF verhält es sich wohl nicht anders.
Und vor allem lenken diese Bewegungen von den wirklichen Profiteuren dieses zerstörerischen Systems ab bzw. verhindern einen Zusammenschluss einer Protestmasse, die man nicht mehr ignorieren kann.
Juli 11th, 2020 at 12:49
Hier ist ja was los … na macht nix, ich rede eh den ganzen Tag mit mir selbst.
Vielleicht macht die Erkenntnis auch sprachlos, dass es ohnehin schon keine parlamentarische Linke gibt – da ja neben den rechten/neoliberalen Gruppierungen ‘Grüne’ und ‘SPD’ eine keynesianische Partei ‘die Linke’ bestenfalls um leichtere Ketten bettelt – und außerparlamentarisch eben auch keine Systemopposition zu finden ist. Alles paletti soweit.
Was bleibt, ist aus meiner Sicht eben Theorie, die kann man zur Not auch allein machen. Vielleicht hilft sie ja irgendwann.
p.s.: Hier ist noch ein bisschen was zur Geschichte der Gewerkschaften/Sozen und dazu, was das Elend mit (der Abkehr von) Marx zu tun hat.
Juli 11th, 2020 at 13:04
Das wurde ganz aktuell auf Makroskop ebenfalls ausführlichst thematisiert.
https://makroskop.eu/2020/07/identitaetspolitik-und-der-neue-geist-des-kapitalismus/
Ich vermute aber eher, dass ist das was man unter einer eher weiblichen Perpektive von Politik versteht. Man kümmert sich um andere, stellt aber nicht das System an sich in Frage und bleibt immer in der alten Mutterrolle stehen. Es ist eine “Position” mit viel Verantwortung und gleichzeitig auch Macht.
Mich erinnt das an die Zeiten, wo man sich als Jugendlicher noch unter der Herrschaft seiner Mutter fühlte. Deine Meinung zählt wenig und am Ende hat sie Recht. Glücklicherweise ist das im Leben nur eine Phase und ich habe keine negativen Gefühle meiner Mutter gegenüber. Aber das eine ähnlicher Habitus heute als Politik anerkannt ist, erschreckt mich. Die Zeiten der Vätermacht sind glücklicherweise vorbei (und waren auch kein Zuckerschlecken), aber ob wir wirklich Müttermacht brauchen?
Juli 11th, 2020 at 14:17
Die Behauptung, dass (auch) außerparlamentarisch keine Systemopposition zu finden ist, kann ich nicht teilen. Aber da steige ich jetzt nicht wieder ein, die Liste der linksradikalen Zusammenhänge und Personen wäre zu lag.
Juli 11th, 2020 at 14:52
flatter: Vielleicht einfach mal einen Blick in den Verfassungsschutzbericht werfen.
Juli 11th, 2020 at 17:32
Splittergruppen. Das ist nicht das, was ich meine. Diese Linksradikalen sind politisch irrelevant.
Aber eines stimmt: Die ‘Dienste’ kennen jeden Einzelnen, ihre Familien, Freunde und Haustiere.
Juli 11th, 2020 at 19:20
Apropos – wie geht’s dem Hund…? :p
Juli 11th, 2020 at 21:31
Läuft. Zwar noch nicht das volle Programm, aber läuft.
Juli 11th, 2020 at 22:01
Feyn. :)
Juli 12th, 2020 at 07:38
Nicht die geringe Zahl schafft eine “Splittergruppe”.
Diese Splittergruppen verkörpern jede für sich nur einen oder einige Splitter von Einsicht in unsere Verhältnisse und nur einen oder einige Splitter einer Vorstellung, was an die Stelle von Ware (Lohnarbeit) und Geld (Kapital) treten kann oder treten muss.
Juli 12th, 2020 at 10:27
Die Jugend ist von der SPD begeistert:
https://www.youtube.com/watch?v=VqGVxe6t6u0
Juli 12th, 2020 at 11:14
@Wal.: Mit dem “Verkörpern” hab ich’s gerade nicht so und der Kontext ist die Frage nach Relevanz bzw. “Geltung”. Diese paar gern fanatischen Kids ändern nichts. Für jeden von denen rennen 100 geistige Frührentner durchs Dorf.
Juli 12th, 2020 at 11:18
Der BMW-Streik, von dem kaum jemand weiß
1972 streikten italienische Arbeiter bei BMW – und flogen raus. Ein Historiker hat die wenig bekannte Aktion erforscht. Hier spricht er über die Verbindung von Studentenbewegung und Gastarbeitern – und ihre Grenzen. [..]
Wie groß war die Angst vor dem Aufstand der Gastarbeiter?
Offenbar sehr groß. Bei einer Notstandsübung des Bundes mit Innenministerium und Bundeswehr ging man vom Szenario aus, dass es in der Autoindustrie einen großen Italienerstreik gibt, den man nicht befriedet kriegt und sich die DDR auf die Seite dieses Aufstands schlägt. Das könnte dann am Ende bis zum Atomkrieg führen. Da sieht man schon, welches Gefahrenpotenzial die Sicherheitsbehörden in den Aufständen gesehen haben – und warum sollte man das dann in den Betriebsleitungen anders gesehen haben. [..]
Juli 12th, 2020 at 11:19
@flatter:
in deiner Sicht bleibt unterm Strich “nichts”.
In meiner Sicht bleiben Splitter von Einsicht.
Das ist ein gradueller Unterschied, der irgendwann mal wesentlich werden kann.
(Das “verkörpern” ließe sich ohne Schaden ersetzen durch “transportieren”.)
Juli 12th, 2020 at 11:33
Mag sein. Ich fokussiere auf eine mögliche Wirkung, du auf ein minimales Potential. Letzteres bleibt aber immer.
Juli 12th, 2020 at 11:36
@R@iner: Interessant. Obwohl die prügelnde Exekutive von Nazis durchseucht ist, haben sie nie das Selbstbewusstsein, dass ihre Volksgenossen das schon in den Griff kriegen. Da ist die Paranoia stets vor.
Juli 12th, 2020 at 11:55
Was die mögliche Wirkung betrifft, sehe ich das auch nicht so schwarz. Ich war ja auch mal Teil eines solchen Splitters, das hatte durchaus positive Wirkung auf meinen Werdegang.
Die Baumbesetzungen gegen den Braunkohleabbau waren ebenfalls nicht ohne Wirkung – auf die Regierung, auf die Gesellschaft wie auf die Teilnehmer.
Juli 12th, 2020 at 12:03
Bäume retten ist eine schöne Sache. Einen Braunkohlebagger zu zerlegen, vielleicht die wirksamere Maßnahme.
Juli 12th, 2020 at 13:50
Wer solche “Antifaschisten” auf seiner Seite hat, braucht sich um nichts mehr Gedanken zu machen.
„War für uns selbstverständlich, uns als Teil der Antifa zu empfinden“
Hinter Paywall, der Opener reicht um wahlweise vor Wut zu platzen oder in schallendes Gelächter auszubrechen.
Juli 12th, 2020 at 15:24
Ja, Bäume retten ist schön, aber hat auch eine antikapitalistische Seite, denn im Hambacher Forst wurde punktuell die kapitalistische Profitlogik durchbrochen.
Als Einzelaktion ist das wenig, aber wenn die Profitlogik an mehr Punkten immer häufiger und von immer mehr Leuten mit Absicht negiert wird, dann wird daraus ein antikapitalistischer Trend.
Juli 12th, 2020 at 15:31
Da bin ich weniger optimistisch. Das Beispiel mit dem Bagger ist ja nicht willkürlich gewählt. Da steht das Privateigentum, gleichzeitig ein großartiges Symbol und durchaus nicht unantastbar. Dazu bräuchte es allerdings das Bewusstsein umd die Ursachen und die Solidarität vieler, denen es genau darum ginge – das Privateigentum anzugreifen. Genau da ist aber so gut wie nix. Dafür reichlich Umweltromantik, staatstragende Gewaltlosigkeit und im Zweifelsfall Ideen von einer gierigen Elite, die mittels Rechtsstaat im Zaum gehalten werden muss. Und das einem Ort, wo Menschen aus ihren Häusern vertrieben werden, um einem ersichtlich irrsinnigen Porfitgenerator zu dienen. Beste Bedingungen also, um wenigstens mal punktuell was zu bewegen. Das bisschen ‘Hambi’ ist doch eine Demonstration der Ohnmacht.
Juli 12th, 2020 at 15:40
Der Bagger ist nicht das Privateigentum, sondern nur ein Teil des (konstanten) Kapitals. Das Privateigentum ist ein verbrieftes Recht, im Interesse des Profits einen Bagger an diesem Ort sein Zerstörungswerk tun zu lassen, und das mittels Staatsgewalt gegen die Leute durchsetzen zu können.
Eine Zerstörung des Baggers erhöht nur die Reparatur-Kosten des Kapitalisten, trifft aber nicht das Rechtsverhältnis und hält daher das Zerstörungswerk nur kurz auf.
Aber aus unserer unterschiedlichen Einschätzung dieses Einzelfalles resultieren unsere Unterschiede in Bezug auf alles radikale Linke.
Juli 12th, 2020 at 16:34
Das ist erstens ein Produktionsmittel, und zwar in diesem Fall ein unersetzliches und zwotens eben nicht mal so eben zu reparieren. Das Recht auf Profit ersetzt ebensowenig diesen selbst, und wo der eben nicht mehr möglich ist, wäre etwas bewegt.
Vor allem ist mir im Kontext jetzt überhaupt nicht eingängig, wieso du an dieser Stelle kleinkariert argumentierst, während das Beklettern irgendwelcher Bäume als antikapitalistisch durchgeht.
Juli 12th, 2020 at 17:57
“kleinkariert” ist, sobald du auf begründeten Widerspruch stößt.
Juli 12th, 2020 at 18:01
Extrem fein beobachtet. Nein, “kleinkariert” ist, wenn das Raster an einer Stelle – eben nämlich um deine Argumente durchzubringen, schön grob ausfällt und woanders eben so fein, dass es im Kontext absurd wird.
Juli 13th, 2020 at 15:18
OT: Sehr geil hier dieser Ausschnitt der Bundespressekonferenz (via fefe), wo Tilo Jung nach dem Fehlen der Taiwanischen Flagge fragt. Gar nicht mal, weil sie fehlt, sondern wegen des ungeheuer depperten überspezifischen Dementis von Rainer Breul. Verarsch mich doch! Härter!!