SPD: Kleine Geschichte eines großen Verrats
Posted by flatter under kapital[10] Comments
03. Jul 2020 19:15
Symbolbild
Der Kollege Stefan Rose erinnert heute nicht nur an den von mir schon oft zitierten Satz aus dem Ahlener Programm der CDU, sondern auch an das Erfurter Programm der Sozialdemokraten. Das waren noch Zeiten, als der Kapitalismus kurzfristig wenigstens nette Lippenbekenntnisse zuließ, für die man heute in jeder Talkshow niedergebrüllt würde.
Schon im Gothaer Programm (1875) war der Klassengegensatz zwischen Kapital und Proletariat deutlich hervorgehoben worden und dem Inhalt nach unversöhnlich. Marxens Kritik daran mag aus heutiger Sicht geradezu kleinkariert aussehen, nicht zuletzt auch, weil diese Missverständnisse und geschichtswissenschaftlichen Schwächen gegenüber den Kehrtwenden, welche die Sozialdemokratie danach vollbracht hat, irrelevant erscheinen.
Klasse!
Da folgende Erfurter Programm hat das noch einmal und noch deutlicher bestätigt. Im Görlitzer Programm wird die die Positionierung durch die Ablehnung der “imperialistische[n] Machterweiterung” ergänzt. Aus dem Erfurter Programm wird ausdrücklich der Satz wiederholt: “Sie kämpft nicht für neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für die Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen selbst [...]” Kurz und vereinfacht: Die Sozialdemokratie vertritt in ihren Zielen eine revolutionäre Haltung.
Gleichzeitig führt sie aber unter “Sozialpolitik” und Folgendem reformistische Forderungen an, deren Umsetzung eben den Kapitalismus erfordern, der an der anderen Front abgeschafft werden soll. Hier wird jene Lohnarbeit gestaltet, gegen die sich das ursprüngliche Programm ausdrücklich wendet. Der Weg der Veränderung soll über einen demokratischen Staat führen, in dem die Arbeiterpartei die Macht übernehmen soll. Das alles wird einige Jahre später im Heidelberger Programm noch einmal konkretisiert.
Vom Gegensatz zum Hundeplatz
Die äußerst oberflächliche Analyse der komplexen politischen Strukturen zwischen Ökonomie/Kapital, Staat und politischen Interessen birgt bereits hier die Gefahr, auf das falsche Pferd zu setzen. Der autoritäre Staat war durch das Abdanken des Kaisers und die Existenz eines Parlaments keineswegs außer Kraft gesetzt, und eine sozialdemokratische Regierung würde keineswegs die ‘Macht im Staat’ innehaben. Ironischerweise wurde dieser Fehler aufs Brutalste deutlich, als es Sozialdemokraten waren, die Arbeiteraufstände zusammenschießen ließen.
Dieser unfassbare Verrat offenbarte derweil nicht nur die Schwächen im Programm, sondern gleich auch den generellen Wert solcher Wortsammlungen im Moment der Entscheidung. Den nächsten Schritt in Richtung auf eine reaktionär kapitalistische Partei ging die SPD nach der demokratischen ‘Machtergreifung’ einer anderen Arbeiterpartei. Aus diesem Desaster eines kollabierenden Kapitalismus schloss sie, dass es an der Zeit sei, das Kapital nicht länger als Gegner zu betrachten.
Juli 4th, 2020 at 11:20
Verrat = „Bruch eines Vertrauensverhältnisses, Zerstörung des Vertrauens durch eine Handlungsweise, mit der jemand hintergangen, getäuscht, betrogen o. Ä. wird…” (Duden).
Ich sehe in dieser geschichtlichen Abfolge keinen Verrat. Es wurde niemand hintergangen, getäuscht oder betrogen. Ja, die Sozis sind von ihren ursprünglichen Ansichten abgegangen, das kann man bedauern und das sollte man verstehen lernen.
Die Anklage „Verrat“ ist bestenfalls moralisch, schlimmstenfalls stalinistisch, wo „Verräter“ gemobbed oder gar hingerichtet wurden, nur weil sie ihre Einsichten und Ansichten geändert hatten.
“Der eigentümliche Charakter der Sozial-Demokratie fasst sich dahin zusammen, dass demokratisch-republikanische Institutionen als Mittel verlangt werden, nicht um zwei Extreme, Kapital und Lohnarbeit, beide aufzuheben, sondern um ihren Gegensatz abzuschwächen und in Harmonie zu verwandeln.” KarlMarx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, 141
Der ständige linke Vorwurf des Verrats durch die Sozialdemokraten hat als Grundlage den Vorwurf, dass die Sozialdemokratie ist, wie sie ist, und beinhaltet die Hoffnung, dass die Sozialdemokraten doch anders sein sollen, damit sie für die Lohnarbeiter und für uns alle, doch das Erlösungswerk tun können, mit dem die Macht des Kapitals gebrochen, jedem Krieg eine Absage erteilt, Armut und Arbeitslosigkeit beseitigt werde und wir zu sorgenlosen und fleißigen Lohnarbeitern werden, die sich außer um ihre Arbeit und ihre Familien um nichts mehr zu kümmern brauchen.
Juli 4th, 2020 at 11:42
Du pflegst eine kapriziöse Lesart, die in diesem Fall auf einer falschen Definition beruht. Falsch, weil sie evident nicht auf den Text passt, an dem sie angelegt wird. Falsch auch deshalb, weil sie verkürzt ist.
“Verrat” ist nicht ein Delikt, das durch ein Gerichtsurteil festgestellt wird. Es ist vielmehr ein Verhältnis, das aufgrund ganz unterschiedlicher Kriterien festgestellt werden kann. Hier vor allem Verrat nicht vorrangig an jemandem, sonern an etwas, nämlich den niedergeschriebenen Grundsätzen. Die Frage ist also: Wie kommt es dazu, dass die Tat scheinbar immer von der Absicht abweicht?
“Der ständige linke Vorwurf des Verrats durch die Sozialdemokraten hat als Grundlage den Vorwurf, dass die Sozialdemokratie ist, wie sie ist, und beinhaltet die Hoffnung, dass die Sozialdemokraten doch anders sein sollen …”
Keine Anhnung, ich kenne keinen “linken Vorwurf”. Was mich anbetrifft, ist es absurd, das zu behaupten, schreibe ich doch eben “ständig” das Gegenteil und verweise auch im obigen Text auf den immanenten Widerspruch, dem der Verrat bereits innewohnt. Dass es dennoch der Entscheidung bedarf, ihn zu exekutieren, lässt sich aber nicht leugnen. Es bleibt daher erstaunlich, dass sich nicht nur welche finden, die es tun, sondern dass sie willig zum Äußersten gehen.
Juli 4th, 2020 at 12:57
Dass sich die Sozialdemokraten über die Grenzen ihrer Korrumpierbarkeit »zerfleischen« würden, nimmt die Parteilinke Hilde Mattheis nicht an – »wäre auch ein blödes Bild, wenn wir das mit Tönnies in Verbindung bringen«.
Genauer nachlesen kann man das erst am Montag, aber es gibt auch so schon ein schönes Bild. Wobei das ja gar nicht der Punkt ist, nur dessen Konsequenz.
Juli 4th, 2020 at 14:40
flatter: Bezogen auf die SPD hast Du das schon mal einfacher formuliert: “Versprechen ist das Gegenteil von Halten.”
Juli 4th, 2020 at 16:04
Mit 15 war ich religiös und wollte ins Kloster gehen, bin aber mit 22 aus der Kirche ausgetreten. Mit 25 war ich Maoist und fühlte mich als Teil der Avantgarde. Mit 28 war ich Beamter, schwor einen Eid auf das Grundgesetz, weigerte mich aber gegenüber dem Dienstherrn, zur Mitgliedschaft im KBW Auskunft zu geben. Weil Kommunist wurde ich aus zwei DGB-Gewerkschaften geworfen.
Aus Sicht der Kirche bin ich ein Verräter. Aus Sicht der Maoisten bin ich ein Verräter. Aus Sicht des Bezirkspräsidenten von Köln bin ich ein Verräter. Aus Sicht der Gewerkschaftsbürokratie bin ich ein Verräter. Ich halte nichts von dem Verratsvorwurf.
Juli 4th, 2020 at 17:14
Ich halte nichts vom aneinander vorbei Reden. Es ist hier eine Institution (Partei), die strukturbedingt ihre programmatischen Grundsätze verrät. Ob jemand sich für heute für wen hält und morgen für etwas anderes, ist nicht mein Thema.
Juli 4th, 2020 at 18:24
Du sagst: Die Partei “verriet” ihre Grundsätze. Ich sage, sie änderte sie.
Hinzu kommt: Wer glaubt schon an Programme/Absichten?
Nicht die Programme zählen, sondern die Taten.
Das sagt schon die Bibel.
Juli 4th, 2020 at 18:41
Nein, sie hat die Grundsätze ja nicht geändert, sondern in jeder Konsequenz dagegen verstoßen, während sie gültig waren. Immer, bis heute und egal, was im Programm steht. Das ist ein Muster bei den Sozen und keineswegs zufällig. Wer daran glaubt? Die Mitglieder, Stammwähler und Hobbypublizisten, die mir mit ihrem Gewäsch von Wollen und ‘Richtigen am Ruder’ auf den Sack gehen.
Die Bibel, ach so. Dann muss es ja stimmen.
Juli 4th, 2020 at 21:11
@7:
Tja,so ist das nun mal, wenn man aus Dummheit Chancen nicht erkennt.
Während das Zentrum und die Deutschliberalen nach WK2 schlau genug waren, wenigstens die Namen zu ändern, mussten die Sozis ja unbedingt unter ihrer seit 1914 verbrannten Corporate Identity weiter machen.
Juli 5th, 2020 at 08:58
“seit 1914 verbrannte Corporate Identity” der SPD?
Die Daten sagen es anders:
Wahlergebnis SPD 1912 = 34,8%.
In der Revolution von 1918 stellten Sozialdemokraten fast überall die Mehrheit in den lokalen Räten. 1919 erzielte die SPD 37,9% der Wählerstimmen. Von da an gings bergab (März 1933 = 18,3%).
Den Höhepunkt der SPD in der BRD brachten die „Willy-Wahlen“ 1972 mit 45,8 %.
Die Entwicklung der Gewerkschaften verlief parallel:
1913 gab es rund 3 Millionen Gewerkschaftsmitglieder. 1919 waren es 4,8 Millionen. Von da an sanken die Mitgliederzahlen. In der großen Krise verloren die Gewerkschaften mehr als ein Viertel ihrer Mitglieder.
Nach dem Krieg lag der der gewerkschaftliche Organisierungsgrad 1952 bei über 40% und sank seither kontinuierlich bis auf derzeit rund 15%.
Die Sozialdemokratie wird nicht durch Krieg oder Revolution geschwächt, sondern durch Wirtschaftskrise.