Der Tag der Befreiung® geht mir, um ehrlich zu sein, am Arsch vorbei. Wie in meinem Buch erläutert, wurden Verdrängung und Kontinuität irgendwann in Form einer neuen Rhetorik ersetzt durch eine raffiniertere Heuchelei. Hauptautor war Richard von Weizsäcker und Depp vom Dienst Philipp Jenninger, der nicht kapieren wollte, dass die Nazis eine kleine Bande waren, die das ganze Volk in Geiselhaft gehalten hatte. Stattdessen ging er auf alle Deutschen los. Fail!
Ich will mich daher mit Wichtigerem befassen, weil es nicht aufhört, aktuell zu sein, weil die erbarmungslosen Propagandisten der Ausbeutung den Rand nicht halten wollen. Für Deutschland war es der 09.09.1982, als Schluss war mit Lustig. Fortan hatte der Arbeiter wieder das Maul zu halten, und wer unnütz ist, gilt wieder als Schmarotzer. Das neoliberale Fanal erklang, namens “Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit” aka Lambsdorff-Papier.
Stillgestanden!
Jetzt fällt einer womöglich vom Glauben ab, und sei es nur kurzfristig, strategisch oder was weiß ich, aber er (an)erkennt eben als Präsident seines Landes, dass etwas gewaltig schiefläuft in der Zivilisation, die nicht bloß ihre wirklich Systemrelevanten verleugnet, sondern eben deshalb die Existenz aller aufs Spiel setzt. Er deutet an, da müsse sich etwas ändern, vielleicht gar etwas reformiert werden.
Prompt springen sie aus dem Busch, die Inhaber des Patentes auf Reformen®, die seit knapp vierzig Jahren genau das predigen, von dem jetzt jeder Depp erkennen kann, dass es nicht richtig ist. Es springt einem ins Gesicht, wer auf wessen Kosten lebt und wohin das führt. Und was fällt den Neoliberalen ein? Macron sei jetzt “kein Reformer” mehr. Weil er nicht dazu kommt, in Frankreich die Renten dem Kapital zu übereignen, was ja bei uns auch kolossal geklappt hat.
Die Kollegen in der Schweiz wiederum warnen (Achtung! Achtung!) vor dem siebenunddreißigsten Linksrutsch® der längst rechtsliberalen und zu Recht marginalen deutschen ‘Sozialdemokraten’. Warum? Weil der Chef-Büchsenspanner Kahrs keine Lust mehr auf seine eignen Intrigen hat. Ist ja auch keiner mehr da, den man wegmobben müsste, weil er nicht auf Kurs wäre. Was da noch steht, erledigt sich gerade selbst. Immerhin keine dumme Ratte, die das Schiff dann doch noch verlässt.
Fortschritt!
Was von der Herrlichkeit des neoliberalen Regimes übrig bleiben wird, ahnen wir bereits mit Blick auf die Trümmerlandschaften, in denen es am heftigsten gewütet hat. Die brunzdummen Faschisten erkennen dort sofort den Feind, der sie in diese Lage gebracht hat: Kommunisten mit ihrem Corona. Angewandte Dystopie mit Vorbildcharakter.
Hierzulande glauben sie wohl noch, alles werde gut, ja vielleicht sogar besser. Da wird das Fleisch der Schwachen eben von den Starken gefressen und die Sklaven werden sich prügeln um einen Herrn, der ihnen Brot verspricht. Und weil das Deutschland ist hier, werden sie alle friedlich bleiben und sich Jahr um Jahr mit weniger begnügen. Ein geniales Konzept, und so innovativ! Ich freue mich auf die anstehenden, echten Reformen®.
Mai 9th, 2020 at 09:09
Die Nazis wren nur eine kleine Bande? Wirklich? Die Deutschen mal wieder als verführte, gezwungene oder getäuschte Opfer eine kleinen überschaubaren Nazibande? Ach komm.
Die These, dass sich ohne die überwältigende fanatische Mehrheit des deutschen Volkes der Faschismus nicht etablieren konnte, beruht auch auf der Tatsache, dass alle gesellschaftlichen Bereiche durch die NSDAP organisatorisch erfasst und kontrolliert waren: NSKK, BDM, Hitler-Jugend, SA, NS-Frauenschaft, Deutsches Jungvolk, Reichsarbeitsdienst, Kraft durch Freude usw.
Alles wurde begleitet von einem modernen, rationellen Verwaltungsapparat. Der US-Konzern IBM leistete mit seinen Hollerith-Anlagen den Hauptanteil an der reibungslosen bürokratischen Erfassung der Juden. Die Reichsbahn funktionierte noch in den letzten Kriegswochen und brachte die Transporte mit den Opfern pünktlich in die Lager, sofern nicht wegen der Züge mit den Soldaten auf dem Rückzug ein Zwangsstopp eingelegt werden musste. Die DeGeSch (Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfungsmittel) lieferte das Zyklon-B. Die BMW (Bayrischen Motorenwerke) hatten 75 Prozent der deutschen Flugzeugmotoren geliefert. Im Motorradbereich war man traditionell gut aufgestellt, unter anderem mit dem “Stalingrad-Krad” für die Wehrmacht, aber das war nur ein Nischenmarkt, der allerdings bis heute wichtig für das Image und die öffentliche Wahrnehmung der Marke ist. Die Liste der Wirtschaftsunternehmen wie Krupp und andere, die im NS-System ihre Chance witterten und bekamen, ließe sich noch weiter fortführen.
Große Zustimmung der Individuen im NS äußerte sich durch Denunziantentum, Führerkult und Herrenmenschengestus.
Tendenziell in Richtung “Rückhalt durch die Bevölkerung” gehen auch die Bücher von
Christopher Browning “Ganz normale Männer”, Daniel Goldhagen “Hitlers willige Vollstrecker”, Jörg Wollenberg “Niemand war dabei und keiner hats gewußt”. Harald Welzer “Täter” (Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden), Neitzel/Welzer “Soldaten” (Doku), Robert Gellately: “Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk”.
Mai 9th, 2020 at 09:26
Ach autolein. Hättst du sie erkannt, hättst du sie behalten dürfen…
Mai 9th, 2020 at 10:21
Klug, klüger, Peinhart (der Alles-Checker).
Mai 9th, 2020 at 11:24
Die Fragestellung, wer für den Nationalsozialismus in Deutschland verantwortlich zu machen ist, ist eine Frage der Historie.
Politisch ist die Frage, wer HEUTE für faschistisches Denken anfällig ist.
Ich denke, diese politische Frage hat zwei Aspekte: Einen quantitativen (Wie viel Prozent der Leute sind dafür anfällig/ansprechbar)
und einen noch wichtigeren qualitativen Aspekt: In welchen Lagern häuft und konzentriert sich faschistisches Denken (Gewerkschaft, Polizei, Militär, Beamte, politische Parteien, Kleinunternehmer, Kriminelle etc.)?
Im Vergleich zum Virus: Eines ist die allgemeine Ansteckungsrate, das andere, inwieweit vitale Organe der Gesellschaft bzw. des Staates vom faschistischen Virus befallen werden.
Ein faschistischer Kluster ist eine größere Gefahr als verstreut vorkommendes faschistisches Gedankengut bei Individuen.
Mai 9th, 2020 at 13:46
Komm Altautonomer, jetzt zieh mal kein Fluntsch wie ein schmollendes Kleinkind.
“Hauptautor war Richard von Weizsäcker und Depp vom Dienst Philipp Jenninger, der nicht kapieren wollte, dass die Nazis eine kleine Bande waren, die das ganze Volk in Geiselhaft gehalten hatte. Stattdessen ging er auf alle Deutschen los. Fail!”
Spätestens bei den zwei kurzen Nachsätzen hätte der Groschen fallen müssen.
Und ausserdem hatte Flatter seiner Zeit beide Reden (Jenninger vs. Weizsäcker) analysiert und in seine Narrativ Serie eingebettet.
Nur mal im Archiv nachgucken.
Mai 9th, 2020 at 16:16
Ich habe altautonomers Beitrag nicht als Widerspruch zu Flatters Beitrag verstanden, sondern eher als Zustimmung. Ich denke nicht, dass altautonomer flatters Sarkasmus nicht erkannte.
Er wollte wahrscheinlich nur weitere Informationen zu diesem Beitrag liefern.
Nur meine Cents zu diesem “Streit” hier.
Ontopic:
Dass “die Deutschen verführt wurden” und von den Gräueltaten nichts mitbekommen haben wollen, wollte mir seit jeher nicht in den Kopf.
Nachbarn verschwinden, KZs und Gestapo, entsprechende Gesetze um die Bevölkerung einzuschränken, etc.pp.
Und keiner soll was gewusst haben?
Und warum “die Amis” in den Krieg zogen (eher das Aufhalten der Sowjets + Retten der Kredite) steht ja auch schon in Flatters Buch gut beschrieben :)
Mai 9th, 2020 at 17:09
Ein schöner Trigger! Damals war ich noch jung und wir verabredeten Überfälle auf die Junge Union bzw. auch auf Jenninger.
Wenigestens eine ordentliche Tracht Prügel hätte er für seine Bundestagsrede verdient. Aber immer stand die Polizei im Weg!
Der wurde ja förmlich wie der Arsch des Systems geschützt.
Was ist heute mit den jungen Leuten los? Ich bin 63!
Oder ist das KPD-Verbot so durchdringend, daß nicht mal mehr die geringste Widerstandsäusserung durchgeht?
Nebenbei bemerkt: Wenn die Jugend sich wenigstens anarcho-syndikalistisch betätigte…..
Aber nee…..Wirtschaft muß brummen
Mai 12th, 2020 at 09:44
@carlo, du hast den Jenninger wohl auch nicht verstanden bzw dich auch nur der offiziösen Schelte angeschlossen? Oder war der Weizsäcker einfach noch besser geschützt? Der hat es doch schließlich, wie hier noch einmal sehr gut ausgeführt, erst so richtig verstanden, die ganze Geschichte auf sauber zu drehen, einschließlich der eigenen und der seines Vaters, den er in Nürnberg verteidigt hatte:
Weizsäcker trieb vor 35 Jahren einen Keil zwischen die private und die öffentliche Erinnerung, spaltete das Individuelle vom Kollektiven, das Faktische vom Emotionalen.
Sehr erfolgreich, und mit folgendem ‘Endergebnis’:
Wir Deutschen, eine Bevölkerung von Traumatisierten.
Wobei sie hier ruhig ‘Volk’ hätte schreiben können…
Mai 12th, 2020 at 13:14
@Peinhart
Die Weizsäcker-Rede damals habe ich als ein sogenanntes “Schwamm drüber” verstanden und war empört. Viele von uns, mein Bekanntenkreis waren wütend. Jenninger als auch Weizsäcker (nicht sein Bruder, der Physiker!) hielten wir damals, und halte ich heute noch für Faschisten.
Interessant, daß Täter von einer Bevölkerung von Traumatisierten reden können (dürfen).
Wie es den Kommunisten und insbesondere Kommunisten, mit jüdischem Familienhintergrund erging, wird ja kaum erforscht.
Valentin Sänger, der jüdische Schriftsteller aus Frankfurt, hatte da mal eine gute Geschichte in ein Buch verpackt.
Ausdrücklich gebe ich keine Empfehlung, weil alle seine Bücher sind gut, wenn nicht super!
Soweit so gut, mich regt dieses Thema in meinem Alter aber immer wieder fürchterlich auf und schafft mir Schaden.