Sich fremd sein (3)
Posted by flatter under kapital , narrativ , sifres , theorie[24] Comments
21. Sep 2019 19:25
Der Mensch hat als soziales Wesen gegensätzliche Grundimpulse: Er möchte dazugehören, Teil einer Gemeinschaft sein und in dieser aufgehen. Anderseits sucht er aber auch Freiheit, möchte selbst bestimmen können, was er tut und lässt. Ein integrierter Mensch, der sich in seiner Umwelt sicher bewegt, weiß, dass er auf die anderen angewiesen ist und dass seine Freiheit erst durch den Rückhalt der Gemeinschaft möglich wird. er wird demnach Freiheit in Episoden genießen und ins Kollektiv zurückkehren.
Auf diese Weise gibt er einen Teil seines ‘Ich’ auf, um im ‘Wir’ sein Überleben und das der anderen zu sichern. Andererseits verlässt er das ‘Wir’, um sich als ‘Ich’ zu erleben und zu entwickeln. Mancher erlebt das Wagnis der Freiheit als eher bedrohlich und verbleibt lieber im Schutz der Gruppe, andere fühlen sich im Kollektiv eher eingeengt, aber immer muss dieses Verhältnis ausbalanciert werden. In verschiedenen Konstellationen hat sich der Mensch unter diesen Bedingungen über Jahrtausende entwickelt.
Draußen vor der Tür
Im ständiger Beziehung zur Gemeinschaft wird die zur Freiheit notwendige Entfremdung, das (sich) fremd Werden, auf soziale Weise gelöst. In einer Gesellschaft, die die Menschen vereinzelt und ihnen abverlangt, sich stetig als Individuum zu profilieren, wird diese Entfremdung zur Last, zu einer beständigen Belastung für die Psyche. Beides hat Folgen: Die Rolle als herausragendes Individuum muss ausgefüllt werden, gleichzeitig die vereinsamte Psyche irgendwie entlastet werden.
Das kapitalistische Narrativ hat nicht zufällig dafür eine Scheinlösung in petto, nämlich die schon erwähnte Strategie des ‘Superhelden’. Gegen die verlorene Geborgenheit bietet er zum Tausch die Allmachtsphantasie an. Das absurde Ergebnis ist, dass jeder Einzelne eben der Größte ist, Herrscher über alles, sowieso über Leben und Tod, der jederzeit als Richter und Henker auftritt. In den Produkten der Kulturindustrie wurde derart das Massaker zur Alltagsstrategie, aus den Phantasien der Vereinzelten rinnt es als Getrolle in die ‘sozialen Medien’.
Dieses Desaster zerstört unmittelbar Realität. Nicht nur führen die Festlegung auf unmöglich zu erfüllende Rollen und der Verlust der nötigen sozialen Geborgenheit (Deprivation) zu Realitätsverlust. Vielmehr wirkt das Ganze wie eine Umkehr der Entstehung des menschlichen Verstandes. Freud hat ausgeführt, dass Wirklichkeit erst entsteht, wo sich der Mensch der Halluzination verweigert und komplexe Lösungen für seine Bedürfnisse sucht. Heute sind wir an dem Punkt, wo eine einzige Halluzination an die Stelle sozialer Wirklichkeit tritt. Diese wird nicht verhandelt, sondern von einer unsichtbaren Macht produziert, ohne dass Verstand dabei eine relevante Rolle spielt.
einer geht noch …
September 22nd, 2019 at 11:56
“Diese wird nicht verhandelt, sondern von einer unsichtbaren Macht produziert, ohne dass Verstand dabei eine relevante Rolle spielt”
Verstand verhält sich zur Vernunft, wie Realität zu einer wahren Wirklichkeit.
Meint, dass gerade der Verstand unbewusste und dogmatische Zustände aufrecht erhält.
Erst die Vernunft reflektiert diese und macht sie bewusst….
September 22nd, 2019 at 13:02
Das ist ein weites Feld, aber ich stelle hier fest, dass Verstand schon nicht relevant an der Realitätsproduktion beteiligt ist. Es sind medial vorgegebene Bilder, Stereotypen und Erzählungen, die nicht in der sozialen Wirklichkeit entstehen, sondern frenab davon. Die Leitbilder haben nichts zu tun mit dem, was den Alltag prägt. Erst recht findet kein kritischer Selbstbezug (Reflexion) dort statt, wo sie produziert werden. Sie sollen funktionieren und unterhalten, nicht Verständnis fördern.
September 22nd, 2019 at 13:51
Bis hier “janz jut” ;-) – ich warte immer noch auf die sozialen Netzwerke … die machen doch angeblich alles wieder heile, oder?
September 22nd, 2019 at 14:38
Gerade der Verstand produziert jene widersprichsvollle, alltägliche und eben soziale Realität, die genannte Leitbilder hervorruft.
Was sich letztlich auch nur realitäts-reproduziernd auswirkt.
Mich stört nur der bei dir positiv besetzte Verstandsbegriff.
September 22nd, 2019 at 15:24
Mich stört nur der bei dir positiv besetzte Verstandsbegriff.
Wo…?
September 22nd, 2019 at 15:57
Es liest sich m.E. im letzten Satz so, als wenn man genannten Halluzinationen (als Wirklichkeit entgegengesetzt) mit Verstandesgebrauch entgegentreten könne…
September 22nd, 2019 at 16:40
Dafür habe ich auf Freud verwiesen. Dort ist das “Realitätsprinzip” ein Resultat von “Wunschabwehr” als Alternative zur Halluzination. Ich gebrauche den Begriff “Verstand” hier (implizit!) in diesem Sinne ebenfalls als eine Instanz, die Wahrnehmungen so organisiert, dass Wirklichkeit beschrieben werden kann. Halluzination zeichnet sich dadurch aus, dass eben dies nicht stattfindet, sondern Reales und Irreales gleichwertig sind. Jede Form von Logik hat dort Pause.
September 22nd, 2019 at 17:01
Danke, jetzt wird für mich ein Schuh draus..
September 22nd, 2019 at 20:22
Gar nicht mal so OT, im Gegenteil: Vor Gericht und auf hoher See. Dicke Leseempfehlung!
September 23rd, 2019 at 15:57
Ich finde es verschwurbelt, teils nicht logisch und wenig erhellend. (Endlich mal Dissens, yeah!)
September 23rd, 2019 at 17:06
Die “Superhelden-Narrative” liefern viele Elemente und Motive mit, die den “Popcorn-Kino-Freunden” subversiv untergeschoben werden.
1.) Das omnipotente Ohnmachtsgefühl der Bevölkerung gegenüber Armut, Korruption, Kriegen, Umweltzerstörung usw. löst sich in der Identifikation mit dem Superhelden auf.
2.) Das neoliberale Prinzip der “Eigenverantwortung”. Wer braucht schon Gewaltenteilung? Einen Rechtsstaat? Diplomatie? Oder einen öffentlichen Diskurs über den Konsens von sozialen Konventionen? Der Superheld ist Ankläger, Richter und Henker, der im Namen des Guten Selbstjustiz verübt.
3.) Das Herunterbrechen auf “gut” und “böse” bringt sämtliche Mechanismen, Strukturen und Methoden zum Verschwinden, die eben für Armut, Korruption, Kriegen, Umweltzerstörung usw. gesorgt haben.
September 23rd, 2019 at 17:45
Dabei sind “gut und böse” inzwischen nur mehr eine Frage der Partei, ohne Begründung, warum das Eine nicht das Andere ist. Ich habe jüngst zwei Filme gesehen, in denen die ‘Helden’ wahre Massaker begehen – du kannst die Leichen nicht mehr zählen, so schnell wird den Leuten da ins Gesicht geschossen oder sie sonstwie zu Tode gebracht. “John Wick 3″ ist so eine Orgie des Mordens, ebenso “Anna”, den sie ernsthaft ohne Sinn und Zweck noch in den 90ern spielen lassen, damit die Bösen böse sind, weil sie eben Kommunisten sind. Das ist dann quasi die Ergänzung zur Zombieapokalypse. Offenbar taugt der Humanoid dem Kulturindustriellen nur mehr als Leiche.
September 23rd, 2019 at 18:31
@flatter #10: hast ja recht. :p
September 23rd, 2019 at 19:26
OT: Eine Freundin hat mich auf einem La Repubblica Artikel aufmerksam gemacht und mir ne kleine Inhaltsangabe auf deutsch gegeben.
Das EU Parlament hat jetzt beschlossen das kommunistische Symbole nicht nur verboten gehören, sondern auch mit dem Nationalsozialismus/Faschismus gleich gesetzt werden.
In Doofland scheint das irgendwie keinem zu stören, so dass ich im Web tatsächlich nur einen (1) deutschsprachigen Text von einer österreichischen Kommunistischen Kleinpartei gefunden habe.
http://parteiderarbeit.at/?p=5506
September 23rd, 2019 at 20:08
@Fred: Mmh, keine Quellen im Text der Ösis.
September 23rd, 2019 at 20:10
Der text der entschließung “Bedeutung der Erinnerung an die europäische Vergangenheit für die Zukunft Europas” ist hier zu finden:
http://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2019-0021_DE.html
September 23rd, 2019 at 20:15
Danke,
Alexa@oblomow! Jetzt wird mir einiges über die österreichische Partei klar. :)Die sind noch nicht einmal auf dem Stand des 20. Parteitags der KPdSU.
September 24th, 2019 at 11:20
Für die Leute die italienisch können oder die welche kennen die italienisch können.
https://www.repubblica.it/politica/2019/09/22/news/comunismo_nazismo_parlamento_europeo_risoluzione-236628451/
September 24th, 2019 at 13:14
fred, zur resolution nur dies: ernst nolte lächelt in seinem grabe.
September 24th, 2019 at 16:23
Ich sag ja, bei so einer Geschichtsvergessenheit bzw. Revisionismus, kann man nur sehen das die Totalitarismus- und Extremismus Theoretiker ganze Arbeit geleistet haben.
Eigentlich kann sich AfD & Co. auflösen.
- Gesellschaftliches Geschichtsbewusstsein verschoben. Check!
- Diskurs verschoben. Check!
- Nazis = Links, Kommunisten = Faschisten. Check!
September 24th, 2019 at 17:26
@Fred: Deshalb sind die Kommunisten ja auch von Stalins Leuten verfolgt und ins Gulag gesteckt worden. Jetzt ergibt alles einen Sinn!!1!
Ich finde ja, es könnte ganz nett hier auf dem Planeten sein. Man muss halt denen in die Fresse hauen, die meinen, man könnte anderen vorschreiben, wie sie zu leben haben.
Tja, und in diesem Punkt sind die Staatslinken eben auch nicht meine Freunde.
September 25th, 2019 at 08:51
Da hast Du durchaus recht, nur bis zum Holocaust liegt die Staatslinke Lichtjahre davon entfernt.
September 30th, 2019 at 20:12
[...] Sich fremd sein (3) 21.09.2019, 19:30 Uhr. Feynsinn – https: – Der Mensch hat als soziales Wesen gegensätzliche Grundimpulse: Er möchte dazugehören, Teil einer Gemeinschaft sein und in dieser aufgehen. Anderseits sucht er aber auch Freiheit, möchte selbst bestimmen können, was er tut und lässt. Ein integrierter Mensch, der sich in seiner Umwelt sicher bewegt, weiß, dass er auf die anderen angewiesen… [...]
Oktober 21st, 2019 at 15:31
[...] liegt nun darin, dass wir als soziale Wesen zwei gegensätzliche Grundimpulse in uns tragen: zum einen möchten wir dazugehören, Teil einer Gemeinschaft sein und in dieser aufgehen. Anderersei… [...]