Sich fremd sein (2)
Posted by flatter under kapital , narrativ , sifres , theorie[24] Comments
17. Sep 2019 17:33
Der kapitalistische Individualismus ist nicht bloß ein Mythos, er ist auch keine beliebige Herrschaftstechnik; in der Praxis geht er nahtlos von der Überbetonung der Einzelleistung und Vereinzelung über in Foltermethoden. Es war schon lange vor der Erfindung der Psychologie bekannt, dass Deprivation – der Entzug von emotionaler und körperlicher Zuwendung – Menschen krank macht.
Ideologisch hat sich die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft entschieden gegen die Kollektive sozialistischer Prägung aufgestellt. Für sie war und ist die Familie das einzig akzeptable und schützenswerte Kollektiv, die “Keimzelle der Gesellschaft”. Ihr allein obliegt es, das Grundbedürfnis nach sozialer Bindung zu befriedigen. Kollektive wurden aus dieser Sicht entweder als Zwangsgemeinschaften zur “Gleichmacherei” aufgefasst oder gleich (“Kommune”) als Keimzelle des Terrors.
‘Familie’
Die bürgerliche Familie ließ freilich nichts übrig von ihrem Versprechen. Schon die Reduktion auf die Kleinfamilie hat sie als System überlastet; in Zeiten, in denen beide Eltern arbeiten sollen, bleibt davon weniger als nichts. Die staatlichen Kollektive, in denen Kinder daher aufwachsen – Kindergärten und Schulen – setzen derweil auf Konkurrenz und Individualismus. Ehrgeizige Eltern steigern das noch, indem sie ihre Kinder zu Leistungsrobotern und Superstars formen wollen.
Dies erzeugt nicht nur massenhaft psychische Störungen, es führte auch zu einer Erzählung, die den Bürgerkindern quasi vom ersten Tag eingetrichtert wird: Du bist der Mittelpunkt der Welt. Du bist besser als alle anderen. Wo das nicht so ist, müssen die Regeln so angepasst werden, dass du es doch bist.
Out There Alone
Dies ist die kurze Skizze der Grusel-Dystopie “There is no such thing as society”. Sie ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, die Zerstörung der Gesellschaft als solcher, die die Zerstörung der menschlichen Psyche als Einheit nach sich zieht. Der natürliche Drang, dazugehören zu wollen, wird in einem grausamen Experiment ersetzt durch den wahnhaften Zwang, Erster zu sein – und damit einsam.
Die menschliche Psyche, um ihr “Ich” herum konstruiert, ist auf das ‘Wir’ angewiesen, auf Kollektivsubjekte, in denen es aufgehen kann. Es weiß sich als Teil der Welt und als Teil der Gemeinschaft, der sozialen Welt. Trainiert wird es aber darauf, dass die Welt in Teilen den Menschen gehört. Die Bindung zwischen Welt und Mensch ist der Kauf, der Tausch, der Erwerb für einen Preis. Eigentum ist die Essenz dieser Beziehungen. Zuneigung, Liebe, Geborgenheit sind nicht konvertibel und daher wertlos.
Hamsterrad
Der Rest an Zwischenmenschlichkeit in diesem Konstrukt ist eben die Konkurrenz, in der es darum geht, wie viel Welt den Einzelnen jeweils gehört. Das Maximum an Gemeinschaft in dieser Sphäre ist die Koalition, die kurzfristige Verbindung von Einzelinteressen. Zur Versorgung der natürlichen Bedürfnisse bleibt eine völlig überforderte Zweierbeziehung, die im Kern die Funktion der Großfamilie ersetzt. Eventuell entstehen dabei Kinder, die, siehe oben, passend gemacht werden.
Die Selbstbeziehung der Individuen in dieser Mühle pendelt zwischen Größenwahn, Einsamkeit, Anpassungsdruck und Orientierungslosigkeit. Immer wieder erweist sich die Anpassungsfähigkeit der Menschen hier als faszinierend flexibel. Die ungemein dämliche Geschichte vom Helden und Einzelkämpfer, der sich in der besten aller Welten täglich beweist, läuft noch in fast jedem Hirn als Film in Endlosschleife – bis der Film halt reißt. Am besten, man gibt den Menschen gar nicht erst die Zeit nachzudenken. Das nämlich ist häufig der Anfang vom Ende.
wird fortgesetzt
September 17th, 2019 at 19:47
Noch besser als der Letzte. Ich bin echt gespannt, ob du das nochmal schaffst. :p
September 17th, 2019 at 21:51
Du setzt mich unter Druuck … ;-P
September 17th, 2019 at 22:54
Das hast du dir auch reedlich verdient…
September 18th, 2019 at 10:54
Starker Text, in der Tat.
September 18th, 2019 at 11:58
OT: Der Spon erfindet eine völlig neue Ökonomie:
“Die Welt wird ärmer, zumindest ein bisschen: Laut einer neuen Studie schrumpften die weltweiten Privatvermögen im vergangenen Jahr erstmals seit der Finanzkrise. Zugleich wachsen die Schulden immer weiter. ”
Fein. welche Vermögen steigen denn dann? Oder ist bei denen die Summe der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht mehr null?
September 18th, 2019 at 12:00
Und noch ein OT:
“Feministinnen haben im wichtigsten englischen Wörterbuch zahlreiche Einträge gefunden, die Frauen herabwürdigen. Der Verlag gelobt Besserung.”
Es geht um Wörter wie “bitch”. Wo genau ist die “Besserung” bei dieser Realitätsverweigerung? Wenn man jetzt das Aufschreiben missliebiger Sprachgewohnheiten verbietet, dann wird alles gut?
September 18th, 2019 at 12:16
@5:
Global Wealth Report von der Allianz?
Die rechnen einfach die eigenen Vermögenswerte als Nicht-Privatvermögen raus und schon stimmt die Rechnung.
Und SPON, als ordentliche Presstituierte, reicht die Werbung unkommentiert als Artikel durch.
September 18th, 2019 at 12:50
@flatter: welches ist denn angeblich das wichtigste engische Wörterbuch? Und was für ein Skandal!
September 18th, 2019 at 13:14
Dem Oxford Dictionary.
Btw. lese ich gerade, dass da ganz schnell jemand mit den Akten auf dem Flur versehentlich in den Schredder fallen muss, sonst kriegte doch noch wer die Amri-Akten zu lesen. Die arme Bevölkerung!
September 18th, 2019 at 13:18
Der hier passt zur 6.
https://www.globalresearch.ca/san-francisco-murals-suicide-left/5682193
September 18th, 2019 at 13:46
Kulturrevolutionäre Arschlöcher.
September 18th, 2019 at 15:38
Was für eine Kulktur…?
September 18th, 2019 at 18:39
Noch OTer: Ich erlaube dem Firefox (hier aus Gründen nur Zweitbrowser) schon keine Updates, jetzt habe ich ihm genehmicht, mal nach solchen für die Plugins zu suchen, und der zerfickt mir sämtliche Bookmarks und sowieso das Language-pack. Coolen Service haben die da!
September 18th, 2019 at 21:18
Guter Text. Is’ was für die Nachwelt, wenn’se noch lesen und begreifen kann.
Derweil der Frank-Walter den Kampf für Demokratie fordert. Und hätte der nicht den Rausschmiss asozialer Arschkrampen aus ihren Schlösschen zur Folge? Wird dann ernst gemacht, ist das Geschrei wieder groß.
September 18th, 2019 at 21:21
“die Zerstörung der Gesellschaft als solcher, die die Zerstörung der menschlichen Psyche als Einheit nach sich zieht. Der natürliche Drang, dazugehören zu wollen, wird in einem grausamen Experiment ersetzt durch den wahnhaften Zwang, Erster zu sein – und damit einsam.”
Ganz richtig und richtig voraufklärerisch.
Ist schon ein “genialer Trick”, aus dem Gedanken der Aufklärung von Gleichheit eine Gleichheit zu machen, die sich darin erschöpft, eine Gleichheit der individuellen Bedürfnisse nach Besitz zu machen, was doch nur der menschlichen Natur entspräche. Und kurzfristige “Kooperation” natürlich nur, um andere besiegen zu können, weil man alleine zu schwach gewesen wäre.
Wusste doch schon Hobbes. Genau da sind wir wieder angekommen. Und das wird uns dann noch als Individualität und Freiheit verkauft und als rational und damit ganz im Sinne der Aufklärung.
September 18th, 2019 at 21:41
@Frau Lehmann: Von Gleichheit lese ich schon lange nichts mehr. Der Terminus lautet inzwischen Chancengleichheit.
Students and society in the 2020s. Three future ‘histories’ of education and technology
Abstract
As social science fiction, this paper imagines three possible futures for education and technology. Among the most important technologies emerging today are data-aggregating technologies such as AI, affective computing, adaptive or predictive software, clouds and platforms. The paper is not, however, directed at specific technologies, but at indeterminate sociotechnical configurations. Set in 2040, it offers three ‘histories’ of the 2020s. Might students become (i) ‘smooth users’, improving themselves in the pursuit of frictionless efficiency within a post-democratic frame created by large corporations, (ii) ‘digital nomads’, seeking freedom, individualism and aesthetic joy as solopreneurs exploiting state regulations and algorithmic rules while stepping out of the state and deeply into the capitalist new economy, or (iii) participatory, democratic, ecological humans embedded in ‘collective agency’ that see institutions as spaces for exploring more equitable ways of living? The paper reflects on the future research and the political, educational and technological decisions which would make each of these three fictional future histories more or less likely.
September 18th, 2019 at 22:15
Doller Ansatz.
Was wir an dieser Stelle noch nicht zusammendystopiert haben, ist die ‘Gleichheit’, die quotiert dafür sorgt, dass alle das Recht auf Sicherheit haben. Niemand darf jemanden triggern oder sonstwie auch nur in Gedanken bedrohen, sonst müssen sie amtlich korrigiert werden. Jeder ist ein potentieller Terrorist – da ist doch reichlich Platz für Gleichheit.
September 18th, 2019 at 22:48
OT: Endlich mal eine sinnvolle Anwendung für ‘KI’: Most Famous Paintings Are Sad, So We Wanted To See What They Would Look Like With Smiles (24 Pics)
September 18th, 2019 at 23:00
Das konnte der Kujau besser.
September 19th, 2019 at 05:40
KI kann bisher nur eins: Mustererkennung. Kann aber auch jede Fruchtfliege.
September 19th, 2019 at 12:23
#5
Kapital war noch nie ein Nullsummenspiel, der vorausgesetzte Zweck der Veranstaltung hieß immer schon Profit.
Erklärungsbedürftig ist eher, unter welchen Gegebheiten welches Kapital entgegen den “Spielregeln” nicht entwertet wird …
September 19th, 2019 at 13:51
Diese ‘Antwort’ hat mit #5 nichts zu tun.
September 20th, 2019 at 22:02
Vielleicht nicht, nur erinnert mich dein Witz an einen alten Hut, Nobody Knows You When You’re Down And Out, der hat bloß nichts mit Ökonomie oder Volkswirtschaft zu tun
September 20th, 2019 at 22:29
Ich Opa muss ja auch nicht mehr alles verstehen.