Sich fremd sein
Posted by flatter under best of , kapital , narrativ , sifres , theorie[20] Comments
08. Sep 2019 16:52
Während der Kollege Sokolowsky sich dankenswert wieder in die Niederungen der Tagespolitik begibt, ist mir das wie meist zu eklig, weshalb ich es mal wieder kompliziert mache. Es wird hier in einigen kommenden Artikeln um einen Komplex gehen, der den Rahmen abgibt auch für die Dekadenz sog. “Demokratie”. Diese scheitert an vielem, unter anderen auch am Individualismus, der großen Illusion der ‘Liberalen’.
Ich möchte mich dem Problem von vielen Seiten nähern, heute eben von der des ‘Individuums’, auch bekannt als “Ich”, “Persönlichkeit” und unter anderen Pseudonymen, von denen mein liebstes “der Mensch” ist. Ihr kennt bereits meine Mission, mit dem großen Irrtum aufzuräumen, ein ‘Mensch’ sei mit seinem ‘Willen’ für das verantwortlich, was da draußen passiert. Ich gedenke, das in Grund und Boden zu argumentieren.
Ich denke, ich bin
Konkret möchte ich heute einmal darauf hinweisen, wie konstruiert ein jeder von uns ist, und dass wir bei näherem Hinsehen als Person verschwinden. “Individuum”? Unteilbar wie das Atom, von dem wir längst wissen, dass es (neben Elektronen, deren Ort man nicht einmal genau bestimmen kann) aus Nukleonen besteht, die sich wiederum aus Quarks zusammensetzen, woraus u.a. folgt, dass Materie eigentlich nur eine Konstellation von Energie ist. Im “Ich” sieht es ähnlich ‘unteilbar’ aus.
Wer einmal eine Episode eines psychisch Kranken erlebt hat, weiß, wie zerbrechlich eine ‘Persönlichkeit’ ist. Wenn das ‘gesunde’ Spiel von Neurotransmittern erheblich gestört wird, verschwindet beinahe alles, was die betroffene Person ausmacht. Man kann das jetzt als Extrem betrachten, als Ausnahme von der Regel, das würde aber schon leugnen, dass es weniger extreme Zustände gibt, in denen ich mich von mir auch erheblich unterscheide.
Unteilbar?
Sowohl sogenannte “Launen” als auch der Einfluss von Gruppen bzw. Rollen oder die Entwicklung einer Person durch die Zeit lassen oft ein Wiedererkennen kaum zu, geschweige denn wäre es haltbar, irgendwen als unveränderlich zu betrachten. Insofern ist das ‘Ich’ in mir getragen von einer großen Suggestion. Ich bin, was ich zu sein glaube, solange ich es eben glaube. Im Grunde allerdings nur für mich.
Persönlichkeit ist eine eher fluide Komposition – ein Stück, dass man nicht nur unterschiedlich aufführen kann, sondern dessen Text sich auch ständig ändert. Das hat es, wohl keineswegs zufällig, mit sogenannten “Narrativen” gemein. Man kann Persönlichkeit durchaus als Erzählung beschreiben. Darin liegt ein Problem, das uns aktuell um die Ohren fliegt.
Einsam am Markt
Die Bürgerliche Gesellschaft basiert auf der Vorstellung eines souveränen Individuums mit ‘freiem Willen’. Die Wirklichkeit hat diese Konstruktion überfordert, widerlegt und der Beliebigkeit preisgegeben. Mit ihr waren ‘Werte’ wie Ehre, Wahrhaftigkeit und Verantwortung verbunden, derer sich konsequent vor allem die Eliten entledigt haben und diejenigen, deren Aufgabe es wäre, durch Kritik und Prüfung das Konstrukt zusammen zu halten.
Dies ist auch das Ergebnis einer freidrehenden Vereinzelung, für die es viele Gründe gibt. Sie war möglich, weil der Kapitalismus mit seiner politischen Vertretung sich Kollektive als solche zum Feind gemacht hat. Das Aufgehen der Interessen Einzelner in Gruppen, die Organisation sozialer Interessen, eben als solche von Gruppen bis hin zu denen der gesamten Menschheit, wurde geopfert: dem Markt, den Einzelinteressen, dem Individualismus.
Insofern kann der Mensch sich überhaupt nicht mehr als Mensch erleben, wo er eben ohnehin ein Konstrukt ist, das obendrein einem abstrakten “Humanismus” huldigen soll, der aber bloß keinen Bezug zu Kollektiven haben soll. ‘Der ‘Mensch’ ist in diesem Irrsinn eine Art Essenz aller Vereinzelten, die göttliche Summe der Einzelinteressen, aus denen sich irgendwie das Gute und Wahre ableiten soll. Das Nähere regelt dann der Markt.
Fortsetzung folgt
September 8th, 2019 at 18:34
Sehr guter Text, an dem es erstmal nichts zu kritteln oder zu ergänzen gibt. Sag ich mal einfach so.
September 8th, 2019 at 19:50
Yo, da schließ’ ich mich an: Wo der Peinhart recht hat, hatter recht.
Bin auf die folgenden Texte gespannt.
September 9th, 2019 at 08:05
“Die Bürgerliche Gesellschaft basiert auf der Vorstellung eines souveränen Individuums mit ‘freiem Willen’.”
Dass dem nicht so sein kann, weiß man nun schon seit ca. 100 Jahren (Beginn mit Bernays in den 20ern) und nutzt es auch fleißig auf allen Ebenen der Machtausübung und erzählt dennoch das Lied vom “mündigen Bürger”, der angeblich der Souverän in einer Demokratie ist. Jetzt mal unabhängig vom ganzen Systemunterbau mit Kapitalismus und sonstigem Gedöns, wie soll ein solches System stabil sein oder überhaupt dauerhaft funktionieren, wenn ein so entscheidendes Merkmal wie der freie Wille längst als Legende entlarvt wurde? Bereits Bernays hatte erkannt, dass Propaganda selbst dann funktioniert, wenn der Empfänger weiß, dass er Propaganda ausgesetzt ist. Grandioser kann man die Idee vom freien Willen wohl nicht demaskieren.
“Persönlichkeit als Erzählung” gefällt mir!
September 9th, 2019 at 08:50
@Yossarian: Gutes Beispiel! Dazu auch die Liste von kognitiven Verzerrungen.
Daraus die Grafik.
Längere Liste in englisch: List of cognitive biases
September 9th, 2019 at 18:46
Schließe mich der Frage an:
tinyurl.com/y2yd4b33
September 10th, 2019 at 10:07
Ha, beim Pseudonym “Der Mensch” muss ich auf jedenfall direkt an Tucholsky denken: https://tucholsky.de/der-mensch/
September 11th, 2019 at 05:04
Das Aufgehen der Interessen Einzelner in Gruppen … wurde geopfert: dem Markt, den Einzelinteressen, dem Individualismus.
Das halte ich auch kaum mehr für veränderlich, zumindest nicht in der bürgerlichen Gesellschaftsform, welche das Konkurrenzprinzip des Marktes als Rahmenbedingung ihrer ‘Verstoffwechselung’ voraussetzt und damit die intrinsische Motivation ihrer Fortschrittsauffassung einprägt. Ich würde sagen, im Konkurrieren ist die Vereinzelung angelegt, und als Teamplayer beschicken die Vereinzelten den Markt. Viel mehr ist da nicht.
September 11th, 2019 at 08:13
@Reinplatzer: Isso. Kannste auch kaum was gegen machen. Is drin, ganz tief.
September 12th, 2019 at 13:18
Verdammte Axt, ich hasse Menschen. Dauernd in Trauben von Rotzigen unterwegs, dann bleibt der Virenbefall nicht aus. Scheißtiming, kann ich gerade gar nicht brauchen. Wir sollten den Wirt ausrotten.
September 12th, 2019 at 13:35
Auf jeden!!1!
September 12th, 2019 at 13:42
Wer nix wird wird Wirt?
(;
September 12th, 2019 at 16:06
@flatter: Hier haste was zum Lachen: Künstliche Intelligenz programmieren
Bedenke: Eine KI, die intelligent genug ist den Turing-Test zu bestehen ist auch intelligent genug ihn nicht zu bestehen.
Du meinst, mein Toaster tut nur dumm um ungestört Pläne schmieden zu können? Jetzt habe ich aber Angst.
September 12th, 2019 at 17:52
Nun, die Menschen nähern sich des Potentials der ‘KI’ zwar rapide von oben, aber auch Einstein hat Fehler gemacht: Selbst der menschlichen Dummheit sind Grenzen gesetzt. Sonst wäre das Rennen gelaufen.
September 12th, 2019 at 23:21
Wie sagen noch die Schachspieler? “Alle Fehler sind schon da, sie müssen nur noch gemacht werden”
September 13th, 2019 at 12:56
Na endlich, das KI-Blabla offenbart seinen Zweck: Etwas Riesengroßes total kaputt machen (z.B. einen Planeten).
September 13th, 2019 at 16:46
On Topic. Falls das jemand nicht gesehen hat: Edward Bernays und die Wissenschaft der Meinungsmache (arte, 54 Min.)
Oder in der Tube.
September 13th, 2019 at 20:25
Ja du mich auch.
September 13th, 2019 at 20:52
Was‘n nu? Auch erkältet?
September 13th, 2019 at 22:00
Aber sowas von. Machst dir keinen Begriff.
September 15th, 2019 at 08:18
Brille kaputt, Freundin weg, Familie ein einziges Arschloch, und Hund krank. In keiner besonderen Reihenfolge.