Lange nicht mehr vor dem “Kreidestrich” gestanden. In den hiesigen Kommentaren ist das der Begriff für die Grenze des Denkens, die viele Diskutanten nicht überschreiten wollen. Ob sie es können, weiß ich nicht, aber ich nehme an, sie wollen nicht. Es ist vor allem der Schritt hin zu der Annahme, dass Märkte nicht bloß weniger perfekt sind als die Neoliberalen Missionare behaupten – sondern dass ‘Marktwirtschaft’ als solche eine Illusion sein könnte, zumal als ‘soziale’.
Ein Problem bei diesem Bemühen liegt darin, dass jene, die sich für Politik und Wirtschaft interessieren, viele Jahre brauchen, um an diese Grenze zu stoßen. Dort angekommen, müssten sie dann akzeptieren, dass alle diese Jahre Jahre eines Irrtums waren. Lieber basteln sie eine Hilfskonstruktion nach der anderen, um ein Denken zu retten, das nicht zu retten ist.
No Return
Diese narzisstische Kränkung wird dabei noch begleitet von der Angst, dann zu ‘denen’ zu gehören und bei ‘ihm’ zu landen: Dem Meister des Bösen und seinen Jüngern, Marx und den -isten. Das kann nicht, das darf nicht und man weiß ja auch, dass die alle irre sind. Zudem wäre man aus allen Diskursen abgemeldet. Damit kommst du in keine Talkshow mehr.
Das ist aber nur eine Stelle am Strich, es gibt derer viele. Was mich derzeit umtreibt, ist die Frage, wie man es so leicht schafft sich zu prostituieren, ja, das für selbstverständlich zu halten. Ausgerechnet der Teil der Bevölkerung, der sich noch für Politik interessiert und sich ernsthaft vertreten fühlt von seinen Berufspolitikern, besteht aus Lohnhuren, die nicht nur freiwillig auf den Strich gehen, sondern ihre Zuhälter auch noch nach Kräften unterstützen.
Man hat gefälligst den ganzen Tag und sein Leben lang zu arbeiten, und wer das nicht tut, ist nach der Sklavenmoral faul und unwert. Unfassbar! Von dieser Seite des Kreidestrichs sieht das einfach nur furchtbar aus, traurig und Abscheu erregend. Dabei gibt es Zeiten, in denen ich die anderen verstehe. Die Angst, nicht mehr zu können, die Angst, dass die Selbstüberwindung zu einer brutalen Hürde wird, ist berechtigt. Auf dieser Seite bist du nicht freier als auf der anderen.
Januar 19th, 2019 at 19:16
Ich gehörte von klein auf zu den Bösen. Wenn immer was kaputt war oder etwas fehlte, es war mein Werk. Mein zweiter Lehrer in der Grundschule war resozialisierter Nazi, der mich als Feind ausmachte und etliche “spanisch Röhrchen” voll Wut auf meinem Po zertrümmerte. Ich habe ihn voller Unverständnis überlebt. Eine Erklärung, warum ich mich nicht unterkriegen ließ, habe ich nicht und rechne das mir nicht als Verdienst an. Ich konnte nicht anders.
Ich habe aber Erklärungen dafür, warum sich jemand aufs Biegen und Betrügen einlässt.
Gestern sah ich ein Doku über einen österreichischen Skifahrer (J. Dürr), der mit den besten Absichten beim Doping landete, “weil es alle machen” und weil man anders “nicht in die Weltspitze kommt”.
Eine durchschnittliche Begabung und überdurchschnittliche Ziele reichen völlig aus, dass jemand zu schiefen Mitteln greift.
Abstrakt formuliert: die Hürden, ohne Betrug durchs Leben zu kommen, sind in unserer Gesellschaft so wahnsinnig hoch, dass Lügen und (Selbst)Betrug das Normale ist, das du niemandem zu Vorwurf machen kannst.
Anders herum: Es wird gut belohnt, wenn du dich prostituierst. Das allein ist Erklärung genug. Nur: Du musst frühzeitig als “junges Talent” damit beginnen. Für unsere Altersklasse wird Unterwürfigkeit nicht mehr honoriert. Wir sind die Langzeitasozialen.
Januar 19th, 2019 at 20:48
Auf dieser Seite bist du nicht freier als auf der anderen.
Auf der anderen kannst du dich sogar noch eher der Illusion hingeben, das alles ‘so gewollt’ zu haben und also ‘frei’ zu sein. Auch wenn’s zunehmend schwieriger wird.
Januar 19th, 2019 at 22:24
“wie man es so leicht schafft sich zu prostituieren”
Mir fiel das sehr schwer – zuletzt als Aufstocker im Callcenter – aber es stellte sich Gewöhnung ein, Alltagstrott. In den vorprogrammierten Arbeitsläufen mit festgelegter Taktrate, wo selbst noch die Zeit auf dem Klo geloggt wurde, war mir die größte Erleichterung bald die, es nicht mehr zu hinterfragen.
Januar 20th, 2019 at 01:44
“[...] war mir die größte Erleichterung bald die, es nicht mehr zu hinterfragen.”
Hitting close to home.
Januar 21st, 2019 at 11:13
Na ja, wollen wir hoffen das es wirklich nur Kreide-Striche sind. Lässt sich gut wegspülen, die Kreide.
Andererseits bin ich froh das ich so unbeleckt bin.
So das, “In den hiesigen Kommentaren ist das der Begriff für die Grenze des Denkens, die viele Diskutanten nicht überschreiten wollen” ich hier weniger Probleme habe.
Das Problem mit Mäxchen und seinen Jünger ist, zumindest für mich, das sie sich nicht kurz und prägnant in einer Sprache bemühen die der Dorfdepp, also auch ich, verstehen kann.
Unter nicht sexueller Prostitution (von lateinisch prostituere „nach vorn/zur Schau stellen, preisgeben,
hat sich ein “preis”gerechter” Tauschhandel etabliert, einige sind billig zu haben, andere nicht.
Ein großer Faktor ist sicherlich die Angst vor dem Ungewissen, in Verbindung mit dem nicht mehr dazugehören, zur Gruppe, was die Leute dazu bringt sich weiterhin möglichst, aus ihrer Sicht, teuer zu verkaufen.
Sind wir nicht alle ein bisschen Bluna??
Januar 22nd, 2019 at 00:37
Wenn jemand nicht will, dann will er eben nicht. Vor allem sind es auch viel zu viele, die nicht wollen. Ich will dann ja meist auch nicht mehr. Warum auch?
Januar 22nd, 2019 at 14:20
OT: 3,5 Millionen Geringverdiener werden entlastet
Die unten auf der Seite verlinkte Antwort der Regierung auf eine kleine Anfrage der Partei “DIE LINKE” finde ich recht interessant.
Auch in Österreich: Ein ärmeres ist ein kürzeres Leben
[..] Rechnet man noch ein, dass etliche Bezieher kleiner Einkommen ihren Pensionsantritt mit 65 gar nicht mehr erleben, ist der Umverteilungseffekt nach oben noch drastischer. [..]
Das ging aber schnell: Präsident Bolsonaro in der Schweiz, Sohn in Brasilien in den Schlagzeilen
Bei ARD und ZDF gibt’s nix dazu. Die Friedrich Naumann-Stiftung hat ja glücklicherweise alle Hinweise auf den eigenen Seiten im Web bereits im verg. Oktober gelöscht: Liberale Hilfe für Bolsonaro