Die Demokratie des Einzelnen
Posted by flatter under narrativ , politik[18] Comments
21. Dez 2018 15:07
In einem sehr erhellenden Artikel von Hans Magnus Enzensberger im “Spiegel” von 1957 findet sich ein Hinweis auf den hiesigen Begriff von “Demokratie”, der nicht zu unterschätzen ist. Es sind diese Details, die schon so ins Unterbewusstsein übergegangen sind, dass man gar nicht auf die Idee kommt, sie anzuzweifeln. Auch so wird das gängige Narrativ gestaltet.
Konkret geht es um den Gegensatz zwischen den Einzelnen, dem Individuum und dem, was damals “Kollektive” genannt wurde. Von Maggie Thatcher (1980) ist der skandalöse Satz überliefert “Es gibt keine Gesellschaft” – diese extremistische Haltung wurde bereits Jahrzehnte zuvor in etwas milderer Form formuliert:
Das Kollektiv als Diktator
“Wenn Sie schon hinter dem simplen Trick der Story eine Geschichtsauffassung suchen, dann ist sie jedenfalls demokratisch, eben weil sie es auf den einzelnen, nicht aufs Kollektiv abgesehen hat.” (Der Spiegel) und “Die Nachrichten entstehen nicht durch “geschichtliche Kräfte oder Regierungen oder Klassen, sondern durch Individuen” (Time Magazine, dort zitiert).
Hier wird bereits die Vereinzelung der Gesellschaft als notwendig für das erklärt, was als “Demokratie” zu gelten hat. ‘Volksherrschaft’ baut demnach auf der Erzählung auf, nur (besondere) Einzelne könnten sie sichern. Die Herrschaft des nationalen Kollektivs über sich selbst wird angelegt als Herrschaft von wenigen. Das ist im Kern absurd. Enzensberger kommentiert das Konstrukt:
Führer und Helden
“Solche Parolen gründen auf der Scheinwahrheit, daß Geschichte von einzelnen gemacht wird: der primär gesellschaftliche Charakter historischer Erscheinungen wird mit einem Seitenhieb auf den marxistischen Klassenbegriff geleugnet.”
Der Antikommunismus ermöglicht eine radikale Konstruktion von Gesellschaft, die die Welt einteilt in zwei spiegelverkehrte Bereiche: Ost und West, Gut und Böse, Freund und Feind, Kollektivismus und Individualismus. Letzterer ist identisch mit “Demokratie” und “Freiheit”.
Vor allem die Darstellung starker Männer als Helden und Führer in sämtlichen Erzählungen vom Film bis hin zur Politik verklärt und verkehrt: Anstatt Hierarchie und Befehlskette als Zwang zu begreifen, hat sie als Freiheit zu gelten. Das Führerprinzip heißt fortan Demokratie. Die autoritäre Herrschaft Adenauers hielt länger als das Dritte Reich und die Herren der Deutschen Industrie sind ohnehin dieselben geblieben. “Demokratie” war von Anfang an kein Anspruch, sondern ein Etikett.
Dezember 21st, 2018 at 15:43
Auch der Glaube an die Großen Männer ist abgenutzt. Außer Katharina II. und M. Thatcher passt sowieso keine Frau als Regierungschefin in dieses Bild.
Und Wirtschaftskrisen fressen jeden “Große-Männer-Glauben”
Dezember 21st, 2018 at 15:56
Komisch, dieser Mustermann im Hintergrund der Grafik.
Dezember 21st, 2018 at 15:58
Was ist daran komisch? Er passt doch in die Erzählung von Großen Männern, und Vertrauen (im eigenen Land) genießt er auch.
Dezember 21st, 2018 at 16:03
Nuya, aber immer der … bisken Abwechslung mit einem, den noch keiner kennt vielleicht? Oder nem strammen Fußballer?
Dezember 21st, 2018 at 16:17
?? Die Grafik handelt vom Vertrauen in die eigene Regierung – und Herr P. ist auch fotogener als Frau M.
Ich hatte allerdings lange nach einem passenden Hintergrundbild gesucht, und am Ende ist er aus der Bilderliste herausgepurzelt.
Dezember 21st, 2018 at 19:51
Da in Deutschland Seriösität immer mit der Optik des Herrn Kaiser von der “Hamburg-Mannheimer” gleich gesetzt wird, ist Putin tatsächlich erste Wahl.
Dem hat der komplette Wertewesten nichts entgegen zu setzen.
Dezember 21st, 2018 at 23:13
Außerdem verströmt Putin ja auch diesen gewissen verruchten Reiz des Geldeintreibers, der mit der Kombizange Fingergelenke zerknackt.
“Ein Land wie Russland kann man gar nicht anders regieren.”
Tschetschenien-ein Schlachthaus, wie der Irak auch. Alle diese großen Männer sind Verbrecher, wahrscheinlich Soziopathen. Es ist nicht so als wären diese Entscheidungen unausweichlich gewesen. Sie waren opportun.
Und das seit Beginn der Geschichtsschreibung.
There´s no such thing as society
“Man and woman, child and youth,
It must be now you know the truth,
She’s the woman in disguise,
she’s the one who tells the lies.
Fight against the ugly race,
and the idle wealth that’s lost all face,…”
Dezember 22nd, 2018 at 11:41
Überschrift des Tages:
Seit zehn Jahren keine Reform: Deutschland verliert Wettbewerbsfähigkeit!
Seit dem Jahr 2000 wird das Land in Grund und Boden reformiert, aber anscheinend war ausgerechnet für die Hilferufer nichts dabei.
Und das 2 Tage vor Heiligabend, mein Mitleid haben sie.
Dezember 22nd, 2018 at 14:09
OT: Der Märchenonkel vom “Spiegel” hat auch für die “Zeit” und die NZZ gelogen. Gottseidank ein Einzelfall®!
Dezember 22nd, 2018 at 14:16
Aber er hat doch nicht gelogen, nur Erwartungen erfüllt…
Dezember 22nd, 2018 at 21:11
Jetzt müssen die Qualitätsmedien aber hart daran arbeiten, ihren Ruf als ausgewogene Berichterstatter zurück zu erkämp- ach, egal.
Haltungsjournalismus, so begründet er auch sein mag, ist von der Boulevardpresse nur noch in Nuancen zu unterscheiden. Was sie vergessen: Auch ein gebeugter Rücken ist eine Haltung.
Dezember 22nd, 2018 at 21:47
Ich hätte da einen Insider-Tip für Märchenonkelenttarnungsexperten: Immer, wenn in irgendeinem Text der Satz auftaucht, irgendwer könnte praktisch aus dem Stand irgendwelche Koransuren hersagen, sie auch noch genau nummeriert runterleiern, also das wahnsinnig gelogene Narrativ von dem auswendig Können des Koran, ist immer ein eindeutiges Indiz, dass es sich um ein (bösartiges) Märchen handelt. Besonders wenn ein Reporter ins Ausland reist und kleine Kinder durch Ruinen stolpern lässt, die dabei nicht nur singen, sondern dann auch eine Sure aus dem Koran hersagen, aber sonst kein einziges Buch gelesen haben, eigentlich auch irgendwie Analphabeten sind: Dann ist der ganze Rest auch gelogen. Daran erkennt man sie alle sofort.
Lieber Flatter, ich habe ja vor nunmehr fast drei Jahren das Experiment begonnen, ob ich nur mit Dir als Lektüre auskomme, manchmal noch fefe, wenn es hoch kommt und sonst gar nix. Es hat zwei Jahre gehalten und ich bin nicht betrogen worden. Seit einem Jahr ist die Schrottpresse dazugekommen, die mir viel zu wenig schreibt, weil man sich bei ihm so behütet, so gut behandelt, so brüderlich verstanden fühlt. Leider fiel ja der Kiezneurotiker weg vor langer Zeit, aber jetzt ist es der Abfall aus der Warenwelt und ab und zu kreuze ich durch Deine linke Seite hier, nicht alles, aber manches gefällt mir.
Wenn ich auch Mitte des Jahres von Deinem ständig-genervten Tonfall in den Kommentaren, der auch von dem ewigen Peinhart nicht gemildert werden konnte, etwas verschreckt war, so bin ich doch immer wieder dankbar, dass Du so unglaublich unbestechlich bist, so dass es meinen Kopf beruhigt, mein Herz erfreut und meine Einsamkeit mildert. Die Einsamkeit desjenigen, der immer wieder voller Angst darauf wartet, dass doch irgendwann die eine entlarvende Bemerkung kommt, die alles gut Gedachte zunichte macht.
Ist nie gekommen.
Dafür danke ich Dir und von ganzem Herzen Gratulation zu dem Buch.
Dezember 22nd, 2018 at 22:16
Und ich danke dir für die aufbauenden Worte, die ich mehr als gut gebrauchen kann.
Dezember 22nd, 2018 at 23:17
Hallo, flatter, da es in diesem Post von dir auch um das Narrativ geht, an dieser Stelle meinen Dank für dein Buch, das ich in null komma nix gelesen habe (ein Exemplar wird zu Weihnachten noch verschenkt). Was für mich besonders interessant ist, ist die Tatsache, dass du aus der Perspektive eines “Westdeutschen” und, so sehe ich das, kritischen und linksorientierten Zeitgenossen, die Erzählung(en) der Bundesrepublik aufarbeitest. Ich als “gelernte Ostdeutsche” habe einiges dadurch besser verstanden und besser begriffen, warum ich mich in dieser Gesellschaft so oft einfach nur fremd fühle, deinen Erklärungen aber sehr nahe. Dafür mein Dank, auch für deine Arbeit hier.
“…daß Geschichte von einzelnen gemacht wird”, ja vielleicht, aber ich halte es dabei durchaus mit Büchner, der so klug war zu erkennen, dass, wer von der Geschichte nach oben gespült wird, von eben dieser auch ganz schnell wieder gestürzt werden kann.
Aber das passt ja nicht zu dem verordneten Optimismus. Manchmal denke ich mir, wenn all unsere “Gestalter” nicht an das glauben würden, was sie so verkünden, müssten sie doch verrückt werden angesichts all der Widersprüche.
Tschuldigung für den langen Text.
Dezember 22nd, 2018 at 23:41
Danke auch dafür. Ich fühle mich meinerseits immer ein weng deplaziert. Wenn ich irgendwo in dem Schmöker quasi lapidar feststelle (ich nenne es daher auch “Anschluss”), dass das osteutsche Narrativ (sicher gibt es da etwas) geschluckt wurde wie die ganze DDR-Gesellschaft, quasi vernichtet wurde, kann ich mein Erschrecken darüber gar nicht ausdrücken. Brutal wie das eben so ist, wenn der Kapitalismus sich voran frisst. Das führt zu dem wohl unvermeidlichen Missverständnis, es interessierte mich nicht. Das Problem ist, dass ich das Montser kenne, das frisst, aber lange nicht alles, was es gefressen hat.
Dezember 22nd, 2018 at 23:56
Nein, den Eindruck, dass dich das nicht interessierte, hast du in meinen Augen nie gemacht. Anschluss ist ganz richtig, und zwar von oben.Im Gegensatz zu manch anderen Bloggern hast du nicht einmal diese elende Erklärung gebracht, dass wir ehemaligen DDRler doch nur alle der D-Mark hinterhergehechelt seien.
Du gehörst zu den wenigen Bloggern, die mich überhaupt dazu gebracht haben, mich wieder für Politik zu interessieren, wofür man durchaus gelegentlich verlacht wird. Ich wünsche eine gute Nacht.
Dezember 23rd, 2018 at 02:00
Für Frau Lehmann wg Büchner und natürlich auch für alle hier lesenden – (falls nicht schon bekannt):
http://buechnerportal.de/
und als einstieg vielleicht:
Büchner: Empathie und revolutionärer Optimismus
Dezember 23rd, 2018 at 13:10
@6 BerndH60 Bist Du Dir da sicher? https://www.youtube.com/watch?v=OyEAwxnTHTI