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Ich habe vor Jahren einen Artikel geschrieben, der sich mit “Fleiß” befasst. Er gefällt mir aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr, so dass ich das Thema beizeiten noch einmal neu abhandeln werde. Ich möchte aber, wo ich mich sogenannten (vor allem ‘deutschen’) “Tugenden” beschäftige, mit Pünktlichkeit anfangen. Wie bei eigentlich allen ‘Tugenden’ ist auch sie Instrument obszöner Unterwerfung, und zwar von beiden Seiten. Die (zumal preußische) Obrigkeit verlangt gehorsam nicht irgendwann, sondern auf den Punkt. Wenn Der Kaiser ruft, haben sich alle einzufinden, und zwar “fünf Minuten vor der Zeit (ist Soldatenpünktlichkeit)”.

Aus meiner Gewohnheit und durch die Anpassung, der auch ich nicht entkommen kann, bin ich selbst ein pünktlicher Mensch. ich kann es nicht leiden, zu warten und möchte daher auch andere nicht warten lassen. Dabei bin ich eigentlich kein ungeduldiger Mensch. Woher aber kommt diese Aversion gegen das Warten? Nebst einiger persönlicher Hintergründe gibt es da so einiges von dem da oben, das es einem madig machen kann.

Ich Chef, du nix

Wer lässt einen wo warten? Als Erstes fallen eienm da die gleichnamigen Zimmer ein, in denen man auf den Arzt wartet. Man macht Termine mit den Herrschaften, die absolut erwarten, dass man nicht später erscheint, selbst haben sie alle Zeit der Welt, und zwar erfahrungsgemäß umso mehr, je autoritärer sie auftreten. Dass das System elitär ist, weiß überdies jeder, der als Kassenabschaum Scharen von Privatpatienten auf der Überholspur erlebt hat oder dem Pöbel seinerseits die Rücklichter zeigt. Nicht viel anders ist das auch auf Ämtern und überall, wo Leute sitzen, die auf andere herabschauen.

Schon in diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die angebliche Tugend ein bestimmtes Gesellschaftsbild sichern soll. Darin drücken sich Hierarchien aus, der Pünktliche gibt sich gehorsam, und der Befehlsempfänger belegt, dass er sich nicht nur vorschreiben lässt, was er zu tun hat, sondern auch wann. Er wird zum Teil des Räderwerks ohne eigenes Zutun, er funktioniert. Je pünktlicher eine Gesellschaft ist, desto effizienter ist sie. Da lacht das Kapital.

Mach’ langsam, Genosse!

Als Oskar Lafontaine 1982 in einer Antwort auf Helmut Schmidt feststellte, mit Sekundärtugenden könne man “auch ein KZ betreiben“, war der Aufschrei der Tugendhaften gewaltig, wie das halt immer so ist, wenn einer sich an die grässliche Wahrheit heranschleicht. Man muss nämlich ergänzen: Nur mit Sekundärtugenden. Unpünktlichkeit hätte zumindest hunderttausenden Mordopfern der Nazis das Leben gerettet. Nur ein enormes Maß an Gehorsam, Disziplin, Fleiß und Pünktlichkeit bringt einen Holocaust zuwege. Dies ist einer der Gründe, warum es Deutsche waren, die ihn durchgezogen haben.

Gesellschaften, die warten können, die wissen, dass Zuspätkommen keine Todsünde ist, warten mehr und können eine Kultur des Wartens etablieren. Wo alle warten müssen, begegnet man sich mit Ruhe, trifft auf andere Wartende und erlebt seine Zeit anstatt sich noch in der Freizeit effizient zu organisieren wie am Fließband. Wir sollten viel unpünktlicher sein.