Ausgerechnet in einer Fernsehserie hörte ich den inspirierenden Satz: “Realität ist das Unveränderliche“. In diesen Zeiten frage ich mich quasi minütlich, wie so mancher durchs Leben marodiert angesichts dessen, was Menschen sich an Weltbildern zusammenzimmern. Eine extrem wichtige Rolle scheint mir dabei das Vergessen zu spielen. Es ist dieses nicht der Vorgang, dass man sich an etwas nicht mehr erinnert, weil es einem entfallen ist. Es muss vielmehr ein Vorgang sein, der nicht weniger Komplex ist als der gegenteilige, das Lernen.
Wenden wir uns noch für einen Augenblick der Realität zu, der unveränderlichen, dem, das ist: Realität ist konsistent. Wo immer man sich oder anderen etwas vormacht, entsteht ein Widerspruch, der bestenfalls in Beliebigkeit endet. Wahrheit hingegen (das betrifft gerade auch Wissenschaft) ist unveränderlich. Man kann Dinge unterschiedlich beschreiben, den Fokus ändern oder das Modell ändern, nach dem man sie einordnet. Es steht aber nicht zur Disposition, ob etwas ist oder nicht, ob zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas geschieht oder nicht.
Welt vs. Narrativ
Die Lüge, die Fälschung, die Propaganda geraten in Konflikt mit der Realität. Diese muss daher in Erzählungen eingebunden werden oder die Erzähler ordnen Ereignisse von vornherein in ihre Erzählung ein und erfinden sich welche, die das Ganze passend machen. Das Narrativ, dem diese Strategien folgen, beschreibt aber nicht. Es steht auch nicht zur Überprüfung an. Es bestimmt etwas, das an die Stelle der Realität tritt; bloß, dass es eben nicht unveränderlich ist, sondern im Kern beliebig. Etwas, das Realität beschreibt, ist hingegen sowohl Historie als auch Prognose. Die nächste Realität, das nächste Ereignis muss denselben Regeln folgen wie alle anderen Ereignisse.
Jeder steht ständig (vor allem in Diskussionen) vor der Entscheidung, sich beliebig zu machen und sich damit als Teil der Wirklichkeit zu verlieren oder die Welt so zu sehen, wie sie unveränderlich ist. Nun ist die Welt extrem komplex; vermutlich so komplex, dass kein noch so kluger Kopf dem nachkommt und daher zwangsläufig irrt. Immer wieder. An diesen Punkten des Irrtums gilt es zu entscheiden, ein eigenes Narrativ an die Stelle der Realität treten zu lassen oder seine Weltsicht zu ändern. Wo sich das Narrativ gegen Veränderung wehrt, wird Realität beliebig. In der Konsequenz endet diese Realitätsabwehr in Psychose, dem endlosen Irren.
Vor allem in Diskussionen macht sich das bemerkbar. Wem es zu anstrengend ist, sein Narrativ zu justieren, seine Weltsicht zu verändern und zu versuchen, sich der Komplexität der Welt anzunähern, hat vor allem zwei Möglichkeiten: Die ehrliche Kapitulation oder wenigstens das Pausieren angesichts einer überwältigenden Schwierigkeit – oder die brutale Anpassung der komplexen Wirklichkeit an ein unterkomplexes Weltbild. Für die anderen bleibt die Aufgabe, immer weiter zu lernen und obendrein das Geschwätz der Stehengebliebenen zu ertragen, die das Gros ihrer Energie in systematisches Vergessen investieren.
Juli 8th, 2018 at 23:27
Sorry jeder hat seine Wahrnehmung d.h seine Wahrheit…
Wahrnehmung gleich Wahrheit!
Ein Bombenentschärfer geht mit anderen “Augen” durch ein Haus/Wohnung als ein Schreiner.
Ausserdem arbeitet das Gehirn energie-effizient,manche sagen es wäre Faul,deshalb löscht es Erinnerungen.
Juli 8th, 2018 at 23:34
Die persönliche “Wahrheit” ist keine. Das lässt von diesem Begriff nichts übrig. So etwas wie Logik ist dann unmöglich.
Ich wäre dir gewogen, wenn du versuchtest, dem Gedankengang im Opener zu folgen und nicht pauschal ein Gegenmodell zu präsentieren, das nicht mehr dazu geeignet ist, noch irgendeine allgemeine Wirklichkeit zu beschreiben. “Unterkomplex” wäre da noch ein höfliches Urteil.
Juli 9th, 2018 at 09:54
Gilt Wahrheit in der Wissenschaft nicht immer als vorläufig? Und wird Realität nicht zu recht immer mehr als Prozess verstanden denn als Zustand? Was bleibt denn da vom ‘absoluten’ Wahrheitsbegriff? Welchem positiven Aussagesatz kann da noch das Prädikat ‘wahr’ (bzw ‘entspricht der Realität’) zugesprochen werden? Und was soll uns Logik mit ihrer Widerspruchsfreiheit, wenn Realität das nicht ist, sondern sich gerade durch Widersprüche entwickelt und zum Prozess wird?
Das wird man ja wohl noch fragen dürfen… :p
Juli 9th, 2018 at 10:25
Das betrifft das “Wie” der Wahrheit, aber nicht das “Was”. Ob ein Ereignis stattgefunden hat oder nicht, ist nicht verhandelbar. Ebenso wenig seine Wirkung. Wahr ist, was sich widerspruchsfrei mit allen anderen Ereignissen in Verbindung bringen lässt (und zu korrekten Prognosen befähigt). Stellt sich heraus, dass ein Modell das nicht mehr kann, muss es so verändert werden, dass es das wieder kann.
Juli 9th, 2018 at 11:01
Schöner Text.
Frage: Warum nennst Du diesen Vorgang den Du im letzten Satz zusammenfasst, “Vergessen”?
Ich weiß nicht, ob das in Deinem Fachgebiet ein anders belegter Begriff ist, aber ich würde das eher “Verdrängen” als “Vergessen” nennen. In den wenigsten Fällen schafft es doch der “Stehengebliebene” sich wirklich so erfolgreich von (s)einem Narrativ zu überzeugen, dass er nicht irgendwo im hintersten Winkel noch weiß, dass da “was nicht stimmt”. Es ist dann eher “nur” so gut versteckt/verdrängt, dass es im Alltag nicht mehr stört.
Das ist in manchen Fällen insofern problematisch, als dass man (z.B. “Urknall”) mitunter nur weiß, dass “irgendetwas” passiert ist, das zu einem Zeitpunkt X eine bestimmte Auswirkung hatte (z.B. Vorhandensein des Universums). Es kann in einem solchen Fall durchaus dazu kommen, dass mehrere Modelle zawr plausibel, aber in Bezug auf die Art, den Zeitpunkt und sonstige Merkmale des Ereignisses sehr unterschiedlich sind. Der gemeinsame Nenner/die Wahrheit wäre dann “nur”, dass diese Erklärungen mit bisher gesicherten Erkenntnissen in Einklang gebracht werden können…
Ganz streng genommen wäre also nur die Wrkung bzw. ein Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht verhandelbar.
edit. sorry für die ganzen edits, ich glaube ich brauche bald eine Brille wenn ich an Mobilgeräten tippen woll.
Juli 9th, 2018 at 11:11
Zu “Verdrängen”: stimmt. Aufs Vergessen zu fokussieren, das fester Bestandteil des Verdrängens ist, verdeutlicht aber die Folgen dieser Form von Wissensorganisation. Am Ende hast du mehr mit der Mühe zu tun, dich an nichts zu erinnern (zu lassen) als damit, etwas zu verstehen. Verdrängen ist das Management des Vergessens.
Zu Letzterem: ich habe schon damit gerechnet, dass mir jemand mit Quantentheorie kommt. Diese Ausnahmen der Ausnahmen markieren den Rand unseres möglichen Wissens. Es ist keine gute Idee, Gravitation anhand einer Singularität erklären zu wollen. Der Apfel ist da wesentlich prägnanter. Ob ein Bus vor einen Baum gefahren ist oder ein General enen Befehl gegeben hat, ist weniger aufwendig zu erklären. Die meisten Vorgänge lassen sich mit Erfahrung und ein bisschen Logik verstehen – wenn man nicht den halben Tag damit zubringt, Ereignisse zu leugnen und andere zu erfinden, um an seinen Mythen festhalten zu können.
Juli 9th, 2018 at 11:26
Klar, in der Praxis funktioniert das i.d.R. problemlos.
Ich würde noch hinzufügen: Ereignisse bereits im Hinblick auf bestende Narrative/Mythen/Agenden auszuschlachten noch bevor, bisweilen auch nur ansatzweise, geklärt ist, was zum Ereignis geführt hat. In diesen Fällen wird ja selten ein Ereignis erfunden oder vergessen, es prägt sich ganz im Gegenteil sogar massiv ein – nur eben mit dem erfundenen/ausgeschmückten Hintergrund. Und dagegen kommt dann keine spätere Korrektur oder Gegendarstellung mehr an.
Juli 9th, 2018 at 12:33
Da Propaganda immer mit der Realität in Konflikt gerät, macht sie halt erst gar nicht die Realität zum Thema. Propaganda funktioniert über Emotionalisierung und je heftiger sie es schafft diese zu erzeugem desto weniger ist für irgendwen die Realität noch interessant. Das funktioniert ja sogar soweit, dass der Effekt selbst dann noch bleibt, wenn die Lüge bereits aufgedeckt wurde.
Besonder plakatives Beispiel:
http://www.sueddeutsche.de/politik/irak-und-der-september-wir-haben-keine-belege-fuer-eine-verwicklung-saddams-1.655225
Ich weiss nicht, ob die 70% stimmen, aber für mich wären auch schon 10% ein erschreckender Beleg dafür wie mächtig Propaganda wirkt.
Juli 9th, 2018 at 16:15
Deswegen habe ich “ehrlich” kapituliert.
Wie in allen Krisenzeiten planen die Fettaugen auch nach einem beliebigen “Event” weiter auf der Suppe zu schwimmen.
Und da ich überzeugt bin, dass die überwältigende Mehrheit lieber dient als denkt…
Via fefe:
https://medium.com/s/futurehuman/survival-of-the-richest-9ef6cddd0cc1
Juli 9th, 2018 at 17:11
Sorry für meine Unterkomplexität,hihi…
Überkomplexität sorgt für Verwirrung nach meiner Meinung..
und jeder der mal eine (unharmonische)Scheidung als Kind rezepieren dürfen musste,wird das mit der Wahrheit und unterschiedlichen Interpretationen bei gewisser Intelligenz nachvollziehen können…
Ich bemühe mich mich verständlich auszudrücken und einen Gegenpunkt oder Ergänzungsstandpunkt zusetzten ohne Nettpolitphilospophischzuverschwurbeln.
Nettpolitischpolitisch zuverschurbeln oder tiefsinningstzudebatiteren ist ganz nett aber vom hunderste ins tausendeste zukommen…
Manchmal braucht man einen sanften pädamagogischen zarten Tritt voller Realitätsbezug vors allzu zerdenkfreudige feynsinnige Schienbein ;-)
Ich hoffe das du mir nicht gram bist, hoffe noch den ein oder anderen unterkomplexen Beitrag hier platzieren zu dürfen?!
Juli 9th, 2018 at 20:17
“Die Story” hat übrigens gerade ein passendes Thema für die Diskussion über Offene Grenzen innerhalb der Linken.
Wie war das noch? Das ist ein Ausgleich für unseren Imperialismus und die Ausbeutung anderer Länder?
In “Europas dreckige Ernte” interessiert das die Ausbeuter eher nicht, sondern sie freuen sich darüber, dass die Ausgebeuteten jetzt auch noch direkt zu ihnen ins Gewächshaus kommen und dort die Tomaten einsammeln. Und weil das noch nicht Freude genug ist, tun die ihnen auch noch den Gefallen illegal da zu sein, so dass sie gegenüber den normal Ausgebeuteten noch mal besser verheizt werden können. OK, konnte man alles auch schon vorher wissen und es war zumindest mir nicht wirklich neu, aber die Doku ist dennoch ganz gut gemacht.
Juli 9th, 2018 at 20:46
OT: Kernkraft ist weiterhin sicher: “Ein Gutachten für die Bundesregierung gibt nun Entwarnung: Die feinen Risse in Reaktor-Druckbehältern [Tihange] seien harmlos.”
Komm, so feine® Risse, die veredeln das doch nur!
Juli 9th, 2018 at 21:03
Naja, wer Fefe ließt, für den ist das längst ein Running gag geworden… bis einem das Lachen im Hals stecken bleibt, weil eins der Dinger hochgeht.
Juli 9th, 2018 at 21:56
Krass, hatte einen Kommentar geschrieben und auf dem Handy sehe ich ihn und hier nicht.
Ergänzend Fefes komplettes Werk “Bei uns ist Kernkraft sicher” via google:
https://www.google.de/search?source=hp&ei=Pr1DW7u4ArKVmwXSnouACw&q=fefe+bei+uns+ist+kernkraft+sicher&oq=fefe+bei+uns+ist+kernkraft+sicher&gs_l=psy-ab.3..0i22i30k1.422.422.0.641.1.1.0.0.0.0.108.108.0j1.1.0….0…1c.1.64.psy-ab..0.1.108….0.TPa3CedtqDc
Tihange taucht da sicher mindestens ein paar Dutzend mal drin auf.
Juli 9th, 2018 at 22:18
Na, können wir denn unseren Namen schon schreiben? ;-P
Den mit dem zweiten o kannte die DB nicht.
Juli 9th, 2018 at 23:39
Respekt!
Juli 9th, 2018 at 23:57
#12
Das ist Shabby Chic oder wahlweise Krakele.
Das hat man heute so bei besseren Schichten.
Andersrum, wenn so ein Reaktor platzt ist der Schaden so groß, da fragt dann keiner mehr nach Verantwortung.
Das wird dann eine sehr spannende Wirklichkeit.
Juli 10th, 2018 at 00:19
Bei Gitarren heißt das “Aging”. Sicher haben sie den topmodernen Reaktor nur mithilfe eines Masterbuilders aufgehübscht. Ja, so wird es sein. Ich fühle mich sicher.
Juli 10th, 2018 at 07:59
ok, da war ein o reingerutscht. War mir am Handy nicht aufgefallen.